Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Sabine Panzram
Rom, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in den 'carceri del Santo Offitio': Ein 'capitano' und seine Gehilfen nehmen den Beschuldigten in Empfang und halten ihm die Konsequenzen seines weiteren Leugnens zunächst lediglich vor Augen. Dann entkleiden sie ihn, binden seine Handgelenke hinter dem Rücken zusammen, verknüpfen sie mit einem von der Decke herabhängenden Seil - und ziehen ihn in die Höhe. Szenenwechsel: In der Nähe von Hamburg, vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, KZ Neuengamme: Aufseher zwingen den Gefangenen, einen Schemel zu besteigen. Sie binden seine Handgelenke hinter dem Rücken zusammen, verknüpfen sie mit von einem Balken herabhängenden Seil - und stoßen den Schemel weg.
Die 'Seilfolter' der römischen Kongregation und die Tortur des 'Baumhängens' der Nationalsozialisten lassen das jeweilige Opfer ruckartig etwa einen halben Meter über dem Boden schweben und haben mindestens eine Luxation der Schultergelenke zur Folge. In weiteren Punkten gleichen sich die im Abstand von rund dreieinhalb Jahrhunderten praktizierten Methoden jedoch nicht: Dies gilt sowohl hinsichtlich der Kandidaten als auch der Dauer der Folter und ihrer Intention. Die zeitgenössischen Handbücher der Inquisitoren benannten die breite ländliche und untere städtische Bevölkerungsschicht, nahmen zum Beispiel Angehörige des Adels und kommunale Honoratioren ganz aus, forderten Einschränkungen gemäß Alter - man mußte mindestens 14 und durfte nicht älter als 65 bzw. 75 Jahre sein -, Geschlecht - Folter während der Schwangerschaft war verboten -, und körperlicher Konstitution. Als moderat galt die Dauer eines Paternosters, eine halbe bis eine Stunde dürfte die Regel gewesen sein, und bei Aussagebereitschaft hatte der 'capitano' sofort abzubrechen. Denn schließlich legitimierte den Einsatz der Tortur das Bestreben, die Wahrheit zu erfahren: Lag häretisches Verhalten in dem Sinne vor, wie es der römische Jurist Prospero Farinacci in seinem 'Tractatus de Haeresi' definiert hatte (Roma 1596, liber V, quaestio 178, num. 10): 'Haereticus est, qui se ab unitate ecclesiae separat', war der Beschuldigte also von der Lehre und den Gebräuchen der nachtridentinischen Papstkirche abgewichen? Oder hatte die Öffentlichkeit durch Denunziation aus einem Sünder, dem sein Beichtvater die Absolution hätte erteilen können, einen strafwürdigen Verbrecher gemacht? Den Berichten der Überlebenden aus den Konzentrationslagern zufolge ließ man die Gefangenen - offensichtlich hauptsächlich Männer - dagegen willkürlich 'hängen', und zwar über einen Zeitraum von bis zu eineinhalb Stunden; eine Praxis, die entweder bewirkte, daß diese ihre Arme über Wochen nicht gebrauchen konnten oder in letzter Konsequenz sogar zum Tode führte. Intendiert war ein 'Quälen des Körpers', das aber jeglicher Legitimität entbehrte: Das Diktum der Soziologie, daß jede Macht rechtfertigungsbedürftig - da freiheitsbegrenzend - sei, war in den Konzentrationslagern außer Kraft gesetzt; diese Art der Herrschaft rechtfertigte sich nicht.
Beide Szenarien sind Beiträgen eines jüngst im Böhlau-Verlag erschienenen Sammelbandes mit dem Titel 'Das Quälen des Körpers' entnommen, der auf eine Tagung an der Albert-Ludwigs-Universität von Freiburg im Breisgau im Jahre 1999 zurückgeht und seinen Herausgebern zufolge eine 'historische Anthropologie der Folter' bieten will. In einem einleitenden Kapitel (S. 1-26) begründen Peter Burschel, Götz Distelrath und Sven Lembke ihren Ansatz: Mit der physischen Gewaltanwendung von Menschen an Menschen steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses eine menschliche Elementarerfahrung und die Frage nach ihrer Bewältigung in spezifischen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Kontexten. Welchen Grad von Institutionalisierung kann physische Gewalt erreichen, welche Formen von Gewaltanwendung werden in einer Gesellschaft respektive Kultur für legitim erachtet und welcher Sinn wird Gewalt zugeschrieben? Eine gewaltsame Herrschaftspraxis, die auf Konformität und Homogenität ziele, bestimmen die drei Historiker als 'Folter'. Sie setzen sich damit von Definitionen, wie sie beispielsweise in rechtshistorischen Studien üblich sind - 'Folter' als gewaltsame Befragung mit den Zielen, ein Geständnis und damit 'Wahrheit' zu erzielen bzw. Informationen und damit Wissen zu ermitteln - ab. Eine historisch-anthropologische Analyse nimmt also im Gegensatz zu konventionelleren Forschungen die Erschütterung des Selbst als eines der zentralen Probleme der überlebenden Opfer auf und integriert auch die Sinnzuschreibungen und Körperkonzepte von Folterern wie Gefolterten. Konzeptionell weiß sie sich zum einen neueren Ansätzen der Gewaltsoziologie mit ihrem Blick auf das Phänomen der Gewalt selbst und der historischen Gewalt- und Kriminalitätsforschung verpflichtet. In dieser wird Gewalt sowohl als Form sozialen Protestes als auch als Ritual gedeutet und Kriminalität und Devianz als soziale Konstrukte, das heißt Resultate sozialer Aushandlungs- und Zuschreibungsprozesse, verstanden. Zum anderen bezieht sich die historisch-anthropologische Annäherung auf den Begriff der Sozialdisziplinierung, die als bestimmendes Moment von Modernisierungs- und Staatswerdungsprozessen, aber auch als Form von Sozialtechnologie aufgefaßt wird; sie rekurriert zudem auf die Körpergeschichte, in deren Mittelpunkt die gesellschaftliche Formung des Körpers und seines Symbolgehaltes stehen. Methodisch bedingt der angestrebte Kulturvergleich einen interdisziplinären Austausch, und so finden sich in dem von Historikern dominierten Band auch Beiträge aus dem Bereich der Politologie, Soziologie, Ethnologie und Kunstgeschichte.
Die zwölf Aufsätze sind von unterschiedlicher Qualität. Zwei Autoren versuchen sich nach einer ausführlichen Besprechung der Literatur an einer Definition des Begriffes. So diskutiert Lutz Ellrich 'Folter als Modell. Diskurse und Differenzen' (S. 27-66) und plädiert schließlich für die Folter nicht als Fortsetzung und Radikalisierung von Tendenzen, die in der 'Normalität' angelegt seien, oder als Markierung eines "Nullpunktes des Sozialen", sondern als "genuines Feld des Sozialen". Damit ermöglicht er ihre Kategorisierung als eigenständiges Handlungssystem mit Effekten, die sich weder aus Dispositionen der Akteure noch anthropologischen Strukturen ableiten ließen. Der Ethnologe Ulrich Oberdiek - 'Initiation, Selbst-Folter und Folter' (S. 67-98) - befürwortet ebenfalls einen weit gefaßten Folterbegriff; dieser solle eine "unerträgliche Straf- und Repressionspraxis" meinen, die politisch, religiös, ökonomisch und privat motiviert sein könne. Der anschließende Vergleich zwischen Folter und Initiation endet mit dem Resümee, daß letztere ein Geheimnis vermittle, statt es zu entreißen, und den Status des Betroffenen erhöhe, statt ihn zu erniedrigen; schließlich sei beiden Praktiken gemeinsam, daß sie sich über den Schmerz in die Person einschrieben. Zwar ist die Bemühung um eine nähere Bestimmung des einer 'Worthülse' ähnlichen Begriffes durch Ellrich und Oberdiek grundsätzlich positiv zu werten, doch wird an dem geschilderten Beispiel - Ellrich verzichtet ganz auf eine Demonstration - nicht deutlich, wo genau der heuristische Erkenntnisgewinn der Definition liegt.
Die fünf sich anschließenden Beiträge, die in der Analyse ihrer Quellen, Argumentation und These überzeugen, nehmen mikro- ebenso wie makropolitische Ereignisse - weder "Nahaufnahmen" noch Institutionengeschichte fehlen - in einem Zeitraum von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit in den Blick. Steffen Diefenbach vergleicht in "Jenseits der 'Sorge um sich'. Zur Folter von Philosophen und Märtyrern in der römischen Kaiserzeit" (S. 99-131) mit gefolterten Philosophen und christlichen Märtyrern Exponenten und Feinde der römischen Ordnung. Beide Gruppierungen stellten durch körperlichen Widerstand 'tyrannische', unrechtmäßig ausgeübte Macht in Frage; diese Macht wiederum suchte sich durch Beherrschung der Körper zu artikulieren. Während die Philosophen jedoch Abweichungen von einer Norm kritisierten, über die innerhalb eines gemeinsamen Ordnungsrahmens Konsens bestand, forderten die Märtyrer die traditionellen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen heraus. Um "Folter und Heiligung in der Legenda Aurea. Frühchristliche Martern und spätmittelalterliche Körperkonzepte" geht es Albert Schirrmeister (S.134-149). Am Beispiel des 287 n. Chr. hingerichteten Vincentius von Saragossa zeigt er das Schema auf, dem die Heiligung von Märtyrern in dieser für Predigten konzipierten Kompilation unterschiedlichster Legenden aus den Jahren zwischen 1252 und 1260 gehorcht: Verhör, Schilderung der Leiden unter der Folter, Tod, Bestrafung des Folternden. Die Schilderung des eng begrenzten Repertoires stereotyper Elemente mit einer besonderen Gewichtung der körperlichen Qualen, die als legitim erachtet wurden und der Vergegenwärtigung des büßenden Geistes im Körper dienten, sollte bei den Hörern 'admiratio' hervorrufen und Fürbitten bewirken. Thomas Scharff arbeitet in seinem Beitrag "Seelenrettung und Machtinszenierung. Sinnkonstruktion der Folter im kirchlichen Inquisitionsverfahren des Mittelalters" heraus (S. 151-169), warum seit dem 13. Jahrhundert sowohl im weltlichen als auch im kirchlichen Inquisitionsbeweisverfahren neben dem Druckmittel der Gefängnishaft, die durch Nahrungsentzug oder Ketten verschärft werden konnte, das der Folter zwecks Wahrheitsfindung eingesetzt wurde. Beide universalen Gewalten, das Papsttum wie das Kaisertum, führten die Folter in einer Zeit ein, in der sie ihre Herrschaftsansprüche in bisher unbekanntem Maße steigerten: Den Vorrang des Papstes verdeutlichte seine Funktion als Haupt einer immer stärker zentralisierten Hierarchie mit der römischen Kurie als Spitze; die Machtfülle des Kaisers dagegen ließ sich jetzt auch - von der Theologie unabhängig - auf der Basis des gerade rezipierten römischen Rechtes begründen. Auflehnung und Ungehorsam gegenüber beiden galt als Häresie; und also sollte die Folter zum einen scheinbare Machtfülle inszenieren helfen und zum anderen die Seelen der 'Verstockten' retten. Am Beispiel des Vogtes der burgundischen Herrschaft im Breisgau zeigt Sven Lembke, "wie Hagenbach die Qualitäten einer herrschaftlichen Person verlor und zum bloßen Gegenstand der Folter wurde" ('Folter und gerichtliches Geständnis. Über den Zusammenhang von Gewalt, Schmerz und Wahrheit im 14. und 15. Jahrhundert', S.171-199). Notwendig war ein Prozeß der Demütigung und Entrechtung, um einem immunisierten Standesträger den Status eines typischen, wehrlosen Folteropfers aufzuzwingen. Die Folter setzte man erst ein, als feststand, daß Hagenbach moralisch und physisch vernichtet werden sollte; sie diente insofern nicht der Information über Sachverhalte, sondern dokumentierte die Ohnmacht des gequälten Subjekts. Der Aufsatz von Peter Schmidt "Tortur als Routine. Zur Theorie und Praxis der römischen Inquisition in der frühen Neuzeit" (S. 201-215), in dem die bereits geschilderte Praxis der 'Seilfolter' thematisiert wird, basiert auf bisher nicht bekanntem Material aus dem römischen 'Archivio della Congregazione per la dottrina della fede. Fondo Sant`Uffizio', denn dieses ist der Forschung erst seit Beginn des Jahres 1998 zugänglich. Schmidt geht es bei der Auswertung der Akten nicht um spektakuläre Fälle, sondern das alltägliche Geschäft der Inquisitoren, wie es der Fall des Christophoro Guillio di Ramella zeigt: Dieser war bereits 22 Jahre als Diener bei protestantischen Schweizer Händlern tätig gewesen, als man seine Herren und ihn beim Inquisitor denunzierte. Während die Kongregation die Schweizer wegen der Brisanz diplomatischer Verwicklungen bald freiließ, bekam Ramella als das schwächste Glied in der Kette die ganze Härte des Verfahrens zu spüren: Haft, Folter, Bußen und das Verbot, im Dienste von Häretikern zu arbeiten.
Diesen Beiträgen folgen fünf weitere, welche von der thematischen Einbindung in das vorgegebene Konzept und hinsichtlich ihrer Qualität abfallen. Dies gilt zum einen für die Ausführungen von Irmtraud Götz von Olenhusen: "Sexualisierte Gewalt. Eine historische Spurensuche vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart" (S. 217-236). Sie bietet einerseits einen Literaturbericht zum Thema "Vergewaltigung als Mittel der Kriegsführung" und nimmt andererseits die Wechselwirkung zwischen sexueller Gewalt und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Blick, verbleibt dabei jedoch im Bereich des Spekulativen. Auch Karin Orth verläßt in "Erziehung zum Folterer? Das Beispiel des KZ-Kommandanten Max Pauly" (S. 237-256), aus dem die oben beschriebene Tortur des 'Baumhängens' stammt, die Ebene des Deskriptiven nicht, und bei Christoph Marx kommt die Analyse zu "Folter und Rassismus. Südafrika während der Apartheid" (S. 257-279) ebenfalls zu kurz. Sein Vorhaben, die Befunde während der Apartheid durchgeführter Studien und solcher der 1995 begründeten Truth and Reconciliation Commission hinsichtlich Ausmaß und Methoden der Folter in Polizeieinrichtungen und Untersuchungsgefängnissen in einen größeren Zusammenhang von Körperstrafen und Gewaltkultur zu stellen sowie zu rassistischen Wahrnehmungen und Alteritätskonstruktionen in Beziehung zu setzen, löst er nicht ein. Gudrun Körners Essay über 'Schönheit und Nutzen. Zur ästhetischen Rezeption der Folter' (S. 281-299) zeichnet sich durch Assoziationen aus - Folter in der Kunst des Alten Europa, moderne Chiffren für Schmerz und Erniedrigung, Inszenierungspraktiken wie die 'Body art' der sechziger Jahre etc. Schließlich bietet Ingeborg Villinger eine Interpretation des Polit-Thrillers "Ausnahmezustand" ("The Siege" / USA 1998), in dem Edward Zwick New York im Kriegszustand inszenierte - als Resultat der Unfähigkeit des FBI, einer Welle von Bombenattentaten islamistischer Selbstmordkommandos Herr zu werden. Die überaus anregende Analyse unter dem Aspekt einer 'Wiederkehr von Opfer und Ritus am Ende des 20. Jahrhunderts' (S. 301-323) erfolgt auf der Basis von Carl Schmitts Begrifflichkeit des "Politischen". Was aber dieser Aufsatz - über die Feststellung von "akustisch wie optisch effektheischend inszenierten Folterszenen" als Bestandteilen des "Kulturkampf-Streifens" hinausgehend - zu einer historischen Anthropologie der Folter beitragen möchte, entzieht sich dem Leser. Der wünscht sich an diesem Punkt seiner Lektüre außerdem zum wiederholten Male ein Autorenverzeichnis, das ihn über die fachliche Provenienz der Beitragenden hätte aufklären können.
Deutlich wurde, daß die ambitiöse Forderung, sich dem 'Quälen des Körpers' historisch-anthropologisch anzunähern, zum Teil gelungen eingelöst wurde. Bedauerlich ist zwar der Verzicht auf einen Aspekt, auf den die Herausgeber selbst hinweisen: Es war ihnen leider nicht möglich, Vertreter der Islamwissenschaften oder der Sinologie für ihre Tagung zu gewinnen, und somit erwies sich der angestrebte Vergleich kulturell bestimmter und gedeuteter Verhaltensformen als nicht praktikabel. Davon abgesehen demonstrieren die überzeugenden Analysen jedoch, daß sich die Frage nach einer der Grundlagen menschlichen Verhaltens methodisch nur beantworten läßt, wenn man einerseits Wahrnehmungsweise, Motivation und Selbstverständnis - das heißt 'Mentalität' - in der Praxis aufsucht und andererseits die Spannung zwischen menschlichem Grundphänomen und Zeitlichkeit als konstitutiv ansieht. Dann erschöpft sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse nämlich nicht in der Feststellung von Folter als anthropologischer Konstante, wie die eingangs gezeichneten Szenarien der 'Seilfolter' der römischen Kongregation und des 'Baumhängens' der Nationalsozialisten dies nahelegen, sondern sucht auch hinter der Willkür letzterer einen Willen und hinter diesem eine Vorstellung von der Realität, die durch den Willen geformt werden soll.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Sabine Panzram, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Email: <panzram@uni-muenster.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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