Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Ohse, Marc-Dietrich
Die zentrale Stellung von Betrieb und Brigade als Sozialisationskernen der DDR-Gesellschaft ist in verschiedenen Studien, u.a. von Peter Hübner und Jörg Roesler, untersucht und von Martin Kohli im Begriff der Arbeitsgesellschaft gebündelt worden. Mit dem Bild und der Rolle von Frauen darin haben sich vor allem Historikerinnen befasst. Während etwa Gunilla-Friederike Budde vorrangig das Selbstverständnis arbeitender Frauen in der DDR analysiert hat, näherte sich Ina Merkel dem offiziellen Frauenbild des Arbeiter- und Bauern-Staates am Beispiel ostdeutscher Illustrierter. Sie führten damit Forschungen fort, die bereits vor dem Ende der DDR begonnen worden waren und die Geschlechterpolitik in Ostdeutschland kritisch hinterfragten.
In ihrer Studie über Leipziger Industriearbeiterinnen betont Annegret Schüle, dass im offiziellen Diskurs der DDR weniger von Emanzipation als von Gleichberechtigung gesprochen wurde, dass es weniger um die Befreiung der Frauen aus tradierten Rollenzuschreibungen ging als um die Verfügbarkeit der Vorkämpferinnen und Nutznießerinnen des Sozialismus (17) für die Produktion und die Sicherung der Reproduktion. Dementsprechend seien in der DDR patriarchale Strukturen und geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen nicht aufgebrochen, sondern nur unter veränderten sozialen Rahmenbedingungen reproduziert worden. Schüle schreibt am Beispiel eines Leipziger Textilindustriebetriebes, in dem nahezu ausschließlich Frauen arbeiten, Betriebsgeschichte als Geschlechtergeschichte (19).
Als Quellen nutzt Schüle neben Betriebsakten, unter denen vor allem Brigadetagebücher einer eingehenden Würdigung unterzogen werden, Interviews. Sie betont einerseits den Wert der Oral History als Quellen der Frauengeschichte, andererseits setzt sie sich mit ihrem Quellenfundus wie auch ihrer Methode äußerst kritisch auseinander. Besonders deutlich wird dies in einem Exkurs über eine Parteifunktionärin, der sich zusätzlich auf Stasi-Akten stützt.
Dem Betriebsalltag der Leipziger Industriearbeiterinnen nähert sich Annegret Schüle in drei Abschnitten, in denen sie Kristallisationspunkte der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft entdeckt: Generationenfolge, weibliche Rollenzuschreibungen und -erfahrungen sowie Betrieb und Brigade als gestalteten Erfahrungsräumen.
Mächtige Mütter und unwillige Töchter
Seit der Abwanderung der meisten männlichen Industriearbeiter aus der
Textilindustrie stellte die Leipziger Baumwollspinnerei einen Frauenbetrieb
dar, dessen Negativimage bis in die Spätphase der DDR tradiert wurde.
Versuche, über eine Anwerbung von Abgängerinnen der 10. Klasse
die Reputation der Spinne zu verbessern, erwiesen sich letztlich
als kontraproduktiv: Die jungen Frauen entzogen sich der ungeliebten Arbeit
und reproduzierten das Negativimage des Betriebes.
Vor dem Hintergrund des hier bereits angedeuteten gesellschaftlichen Wandels rekonstruiert Schüle generationelle Differenzen unter den Spinnerinnen. So hätte die ältere Generation biografische Defizite, die aus dem Krieg resultierten, durch ihr proletarisches Arbeitsethos kompensiert, wonach die Existenzsicherung vorrangiger Zweck der Arbeit gewesen sei. Demgegenüber hätten jüngere Arbeiterinnen die Arbeit aus ihrer individuellen Sicht hinterfragt, statt ihr eine gesellschaftliche Perspektive zu unterlegen.
Dieser neue Hedonismus widerspiegelte sich auch im Aufstiegsverhalten der
verschiedenen Generationen. Empfanden jüngere Frauen eine Karriere als
Erfahrungs- und Lustgewinn, der ihr Selbstbild wesentlich prägte, der
sie sich aber auch wegen des geforderten Eintritts in die SED verweigerten,
so gaben ältere Leiterinnen zu Protokoll, sich mit ihrem Aufstieg dem
permanenten Druck in den Fabrikhallen entzogen zu haben.
Die ältere Arbeiterinnengeneration wiederum reproduzierte den Paternalismus
der Gesellschaft und der Betriebsleitung, in dem sie vergeblich ihr Arbeitsethos
an die jüngeren Kolleginnen weiterzugeben versuchten. Diese aber entzogen
sich - nicht zuletzt aufgrund verbesserter Bildungschancen und großer
sozialer Sicherheit - dem anhaltenden Druck: Frauen, deren Anspruch
durch die Maschinenarbeit nicht erfüllt werden konnte, sind in der ersten
Generation aufgestiegen, in der zweiten Generation ausgestiegen. (104)
Die Fluktuation jüngerer Arbeiterinnen in der Spinne sei
somit als widerständiges Verhalten zu werten.
Im Netz der Spinne
Der spezifische Frauenraum der Baumwollspinnerei war von Anfang mit einem
Stigma behaftet, das Schüle einer eingehenden historischen Betrachtung
unterzieht. Das Bild eines Hortes der Libertinage war danach weniger auf
konkrete Erfahrungen (die es gleichwohl gegeben haben mochte) als auf die
Geschichte der Textilbetriebe als Konzentrationspunkten unabhängiger
und damit von der patriarchalen Gesellschaft als problematisch empfundener
Frauen zurückzuführen (127ff). Dabei sei auffällig, dass das
Negativimage der Betriebe in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis
zum Anteil männlicher Arbeiter stand und unabhängig von den
äußeren Arbeitsbedingungen war, wie ein Vergleich mit zwei anderen
Leipziger Betrieben der Textilindustrie zeigt.
Schüle unterfüttert diese Darstellung mit einem interessanten Ausflug
in die Mythologie der Spinne, der Überzeugen könnte,
wären entsprechende Außenwahrnehmungen des Betriebes für
die Argumentation herangezogen worden. Ähnlich inkonsistent wirkt auch
die geschlechtsspezifische Interpretation einzelner Assoziationen, die
Schüle aus Interviewpassagen destilliert, obwohl die Verwendung von
Gemächt statt (Rum-)Gemache und
Vormund statt Leumund - eingestandenermaßen
- auch auf niedriges Bildungsniveau zurückgeführt werden könnten
(109f).
Dessen ungeachtet bieten die Passagen dieses Kapitels einen aufschlussreichen
Blick auf die Geschlechterverhältnisse in der Spinnerei.
Die wenigen Männer im Betrieb - vor allem Mechaniker - sabotierten die Arbeit der Frauen, deren Gehalt anders als das ihrer männlichen Kollegen von der Normerfüllung abhing. Zugleich wichen sie politischen Ansprüchen aus und delegierten deren Erfüllung an die Frauen - voran an die in der Betriebshierarchie aufgestiegenen. Die Arbeiterinnen reagierten darauf einerseits, indem sie sich die technische Kompetenz der Männer sukzessive aneigneten, andererseits ließen sie in der Konfliktbewältigung die gewerkschaftlichen, männlich geprägten Formen hinter sich.
In der Folge seien die Brigaden zu einem spezifischen Frauenraum
umgewandelt worden. In diesem habe einerseits zwischen Leitung und Arbeiterinnen
vermittelt werden können, andererseits habe er vor allem Schutz vor
sexuellen Übergriffen geboten. Die Reproduktion von Geschlechterrollen
wird hier nochmals besonders deutlich, wenn Schüle belegt, dass sexuelle
Übergriffen im Parteiinteresse tabuisiert wurden (206f).
Die Tradierung von Rollenzuschreibungen wurde auch dadurch unterstützt,
dass der Betrieb wesentliche Aufgabe für die Sicherung der Reproduktion
übernahm, wodurch die Trennung von Arbeits- und Lebenswelt
überbrückt werden konnte.
Zwang und Lust in der Betriebsfamilie
So verharrten letztendlich auch die Brigaden in der Baumwollspinnerei in
der paternalistischen Struktur, die die Gesellschaft insgesamt charakterisierte
und sich auch in der Interaktion im Betrieb widerspiegelte. Die Männer
übernahmen hier die Väter-, die älteren Arbeiterinnen und
die Leiterinnen die Mütterrolle, während die jüngeren
Arbeiterinnen als rebellische Töchter auffielen. Annegret Schüle
spricht deswegen von einer Familiarisierung der Betriebe in der
DDR und ihrer Brigaden, zumal die Mitgliedschaft in einer Brigade ebenso
unfreiwillig war wie die in einer Familie und der Druck zur
Konfliktbewältigung entsprechend groß war (232).
Die engen Sozialbeziehungen in den Brigaden seien ein wesentlicher Grund für die Arbeitszufriedenheit gewesen, stimmt Schüle Jörg Roesler zu. Als Mitbestimmungsorgane seien die Brigaden seit den fünfziger Jahren ohne Belang gewesen, allerdings hätten sie politische Ansprüche an die Arbeiterinnen erheblich abfedern können. Die Anreicherung des Brigadelebens, dessen Wandel Schüle eindrucksvoll mit einer Analyse von Tagebüchern demonstriert, mit kulturellen Funktionen habe den Arbeiterinnen die privatisierende Aneignung politischer Rituale ermöglicht. Die Brigaden hätten somit politischen Ansprüchen in formalisierter Form genügen können, die sozialistischen Normen jedoch weitgehend ihres politischen Gehalts entkleidet. Zugleich reproduzierten auch die Brigaden bestimmte Rollenzuweisungen, wie Schüle am Konflikt um eine so genannte Asoziale dokumentiert (268).
Durch ihre kulturelle Funktion spielten die Brigaden eine wichtige Rolle bei der Verzahnung von Arbeits- und Lebenswelt. Schüles Behauptung, sie seien in der Spinne in frauenspezifischer Weise ausgestaltet und genutzt (privatisiert) worden, vermag angesichts vergleichbarer Forschungsdesiderate über Männerbrigaden nicht zu überzeugen. Dieser These widerspricht auch der Umgang mit ausländischen Kolleginnen und Kollegen, die von deutschen Frauen und Männern gleichermaßen diskriminiert werden (282ff). Kulturelle Überlegenheitsgefühle äußern Deutsche beiderlei Geschlechts und unabhängig von ihrer Funktion. Die Arbeiterinnen allerdings kompensieren dabei ihre weibliche Diskriminierungserfahrung an den ausländischen Männern, die in Arbeitswelt, ihre Frauenräume, vordrangen.
Patriarchale DDR-Gesellschaft
In ihrer Studie gelingt es Annegret Schüle, eindrücklich darzulegen,
dass die DDR-Gesellschaft patriarchalisch blieb. Der Paternalismus schlug
bis in den Arbeitsalltag durch und wurde von Arbeiterinnen sowie von Frauen
in Leitungsfunktionen trotz ihrer sozialen Kompetenz reproduziert. Trotz
aller Konflikte, die vielfach auf die tradierten Rollenzuweisungen
zurückgingen, wird die betriebliche Verankerung von den Frauen
harmonisierend als organische, lebendige Verbindung erinnert
(335). Dies führt Schüle zurück auf die in der Spinnerei gebotenen
Chancen, den Arbeitsraum sozial strukturieren und Aufstiegsangebote wahrzunehmen.
Allerdings seien Konflikt-, Diskriminierungs-, aber auch Aufstiegserfahrungen
individualisiert verarbeitet und erinnert worden. Blieb die ältere
Generation aufgrund des tradierten Ethos ihrem Arbeitsplatz verbunden und
bildete sie damit das Rückgrat der Arbeitsgesellschaft DDR
(344), so wichen jüngere Kolleginnen den Zumutungen am Arbeitsplatz
aus.
Die tradierten mentalen Strukturen sind in der DDR von der Staats- und Parteiführung weitgehend ignoriert worden. Weil alle gesellschaftlichen Fragen in einer ideologisch bedingten ökonomistischen Engführung behandelt wurden, blieb auch das Problem der Diskriminierung von Frauenfabrikarbeit ungelöst. Systemspezifische Neuerungen in der weiblichen Arbeitswelt durchbrachen deswegen nicht das paternalistische System, das sich in der familiarisierten Betriebsstruktur widerspiegelte und von den Frauen in ihrer eigentümlichen und ambivalenten Verbindung von Geborgenheit und Unterordnung weitgehend mitgetragen wurde (349).
Die Studie Annegret Schüles besticht über die klare Argumentation
sowie die kritische Reflexion von Quellen und Methode hinaus durch einen
sehr flüssigen, im positiven Sinne suggestiven Stil. Die sensible, nahe
Darstellung eröffnet einen eindringlichen, dennoch ungehinderten Zugang
zu einem Thema der Frauen- und der DDR-Geschichte, der durch die zahlreichen
zeitgenössischen Fotos unterstützt wird, die Schüle 1996 zu
einer sehenswerten Ausstellung unter dem Titel Die Spinnerei war mein
Leben geworden zusammengeführt hat.
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Ohse, Marc-Dietrich,
<m-d.ohse@freenet.de>
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Lemke <lemkem@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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