Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Willi Oberkrome
Betrieb die deutschsprachige Geschichtswissenschaft der dreissiger und frühen vierziger Jahre eine anwendungsorientierte "Begleitforschung der völkischen Flurbereinigung" in Europa? Welchen Platz nahmen angesehene deutsche Gelehrte in der nationalsozialistischen "Funktionselite" ein? Wie vollzog sich die ethnozentrische, rassistische, antisemitische Radikalisierung einer Historiographie, die sich jahrzehntelang auf das Erbe Rankes, Niebuhrs und Droysens berufen hatte?
Ingo Haars Buch beantwortet diese seit einigen Jahren intensiv diskutierten Fragen aussergewöhnlich pointiert. Folgt man seiner Argumentationskette, entsteht folgender Eindruck von der deutschen Geschichtswissenschaft im 'Dritten Reich': Die NS-konforme Instrumentalisierung der historischen Forschung wird auf einen Paradigmenwechsel von der kleindeutschen Staatsgeschichte zur gross- bzw. alldeutschen Volksgeschichte zurückgeführt. Der erste Versuch, eine ethnoradikale Historiographie jenseits der historistischen Parameter zu etablieren, setzte in der Weimarer Republik ein. Vor allem die Leipziger 'Deutsche Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung' bildete ein Sammelbecken völkischer Revanchisten aus geographischen Instituten und historischen Seminaren. Sie bedienten sich ehemals marginalisierter, kartographischer und quantifizierender Verfahren, die jetzt zum wissenschaftlichen Rüstzeug des sogenannten akademischen 'Grenzkampfs' aufgewertet wurden. In seinem Zusammenhang entstanden zahlreiche Schriften, deren gegen das System der Pariser Vorortverträge gerichtete Propagandaeffekte explizit erwünscht waren. In ihnen kündigte sich die Tendenz an, das nach 1918 revisionspolitisch wahrgenommene Grenz- und Auslanddeutschtum insbesondere in Ostmittel- und Osteuropa ethnoideologisch zu überhöhen. Personelle Verbindungen zwischen den Volksforschern und dem 'Verein/Verband für das Deutschtum im Ausland' u. a. semioffiziellen Körperschaften der 'Deutschtumspflege' jenseits der Reichsgrenzen wurden zur Selbstverständlichkeit. Grossprojekte der Volks- und Kulturbodenhistoriographie, vor allem das 'Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums' und der 'Atlas der deutschen Volkskunde', verquickten völkische Ideologiebestände mit wissenschaftlichen Ansprüchen.
Dafür, dass die Veröffentlichung dieser Mammutwerke vor 1933 ebenso scheiterte wie die 1931 "aufgelöste" Leipziger Stiftung, macht Haar drei Gründe geltend. Erstens die internen Spannungen zwischen gemässigt revanchistischen und ungezügelt chauvinistischen Volkstumswissenschaftlern, zweitens den Einfluss parlamentarischer Kontrollinstanzen, die manchen intellektuell beflügelten Expansionstraum auf den Boden des multilateral Opportunen zwangen, und drittens die von volksgeschichtlichen Vorstössen unangetastete "Vorherrschaft der kritischen Schule des Historismus"(S. 237). Ihre Vertreter, Friedrich Meinecke, Hermann Oncken, Walter Goetz und offenbar auch Gerhard Ritter (S. 119, 134) repräsentierten eine reichspatriotische, gleichwohl humanistische, von "sittlichen Werte[n]" (S. 236) geprägte Geschichtswissenschaft, die alles daran setzte, "das international geachtete Prinzip der Diskursivität der wissenschaftlichen Forschung, in dem sich historische Wahrheit im Prozess einer Dauerrevision von Forschungsresultaten zu konstituieren hatte" (S. 148), gegen ethnozentrische Blickverengung und Überheblichkeit zu verteidigen. Dabei waren sie etwa zehn Jahre lang erfolgreich. Erst mit den 'Osthilfeprogrammen' der letzten Weimarer Reichsregierungen erfuhr die völkisch fundierte Ostforschung einen neuen Auftrieb. Seit 1930 forderten Hermann Aubin, Adolf Helbok, Max Hildebert Böhm u. a. die Wende zur Volksgeschichte mit Nachdruck ein. Hans Rothfels führte den Volkstumsbegriff als Schlüsselterminus zum Verständnis der deutschen Geschichte 'im Osten' auf dem Göttinger Historikertag 1932 an. Die Dämme des kritischen Historismus wurden porös. Gebrochen sind sie 1933.
Nach Haar bewirkte der Nationalsozialismus einen tiefgreifenden Elitenwechsel im Bereich der Geschichtswissenschaft. Unter Aufbietung erheblicher denunziatorischer Energien gelang es einer Reihe völkischer Karrieristen um den preussischen Staatsarchivar Albert Brackmann und den Breslauer Landeshistoriker Aubin einerseits, die 'vernunftrepublikanische' Phalanx der Meinecke, Oncken usw. auszuschalten. Sie wurden gezielt aus den Vorständen der Historischen Reichskommission, der Historischen Zeitschrift u. ä. fachlicher 'Schaltzentralen' gedrängt. Dadurch wurde es andererseits möglich, alle laufbahnrelevanten Stellen im Betrieb der interdisziplinären Ostforschung mit Nachwuchskräften aus dem intellektuellen Milieu der ethnoradikalen 'Deutschen Akademischen Gildenschaft' zu besetzten. Junge, rechtsextrem disponierte Historiker wie Theodor Schieder und Werner Conze, bündisch sozialisierte Agrar- und 'Bevölkerungsspezialisten' wie Theodor Oberländer und Helmut Haufe erhielten damit berufliche Entfaltungsmöglichkeiten, die unter günstigeren Umständen der "demokratisch und sozialistisch orientierten Minderheitenströmung" (S. 366) der Berliner Geschichtswissenschaft, mithin der Schülerschaft Meineckes vorbehalten gewesen wären. Das Forschungskartell der Ostforschung duldete solche kritischen Köpfe naturgemäss nicht; es brauchte gläubige Kombattanten im deutschen 'Volkstumskampf' an der - Schritt für Schritt - erweiterten Ostgrenze des Reiches.
Unter Brackmanns Federführung entwickelte sich der volkshistorische Ansatz nicht nur zum bestimmenden historischen Deutungs-, sondern zu einem hermetisch geschlossenen Wissenschaftssystem, das die Grundsätze akademischer Redlichkeit je länger, desto bereitwilliger suspendierte. Sein um den Mittelpunkt der 'Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft' ausgelegtes, antislawisch und rassenantisemitisch eingefärbtes Netzwerk spannte sich um vier Säulen: 1. Die skrupellose Ausschaltung jeglicher Konkurrenz und die Festlegung der 'Forschungsergebnisse' auf normativ vorgegebene deutschtumsideologische Prämissen. 2. Die Einbindung sämtlicher mit Fragen der grenz- und auslandsdeutschen Volksgruppen befassten Organisationen unter das Dach der östlichen "Grossforschung". Diese Adaption revidiert nach Meinung Haars das gebräuchliche Bild vom polykratischen Wissenschaftsbetrieb des 'Dritten Reiches' (S. 18f.). 3. Ein von den Beteiligten strikt befolgtes Geheimhaltungsgebot, das es zum einen ermöglichte, ausländischen Historikern die Kenntnisnahme deutscher Quellen und Publikationen zu verwehren, und zum anderen die in aktiver, auswärtiger Spionagetätigkeit gewonnen Einsichten auf dem streng vertraulichen Dienstweg weiterzugeben. Den konspirativen Charakter der 'agentenhaft' inszenierten Ostforschung betont der Autor unentwegt. 4. Die 'bevölkerungs'- und besatzungspolitische Funktionalität der Volkstumsuntersuchungen, hauptsächlich der ethnographischen Kartenwerke und Bevölkerungsstatistiken. Ihre Anwendbarkeit bei der völkischen 'Neuordnung Europas', bei Deportations- und "Umvolkungsvorhaben", bei der Ghettoisierung der Juden sowie im genozidalen 'Generalplan Ost' verschaffte den interaktiven, organisationell verkoppelten "Laboratorien der Ostforschung" in Breslau, Königsberg, usw. jene Anerkennung "der Macht", die ihre Stabilität und Konsistenz im wesentlichen begründete. Haars Fazit lautet, dass von einer inhumanen, im Dunkel geheimer Machenschaften wirkenden Forschung keine innovativen Impulse ausgingen, "wenn unter Innovation verstanden wird, dass die jeweilige Disziplin etwas zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation beitrug" (S. 372).
Es ist anzuerkennen, dass Haars Untersuchung in verschiedener Hinsicht 'Neuland' erschliesst. Die Entwicklungsstadien der Ostforschung und -planung werden weit über den bisherigen Erkenntnisstand hinaus nachgezeichnet. Bemerkenswert sind die quellengestützten Ausführungen über die Radikalisierung der studentischen Gilden sowie die Darstellung der von Aubin und Schieder geleiteten ostdeutschen 'Landesstellen für Nachkriegsgeschichte' und einiges mehr. Darüber hinaus aber provoziert Haars irritierend stringente Konzeptualisierung der Ost- bzw. Volksforschung Anmerkungen und Einwände, die hier lediglich skizziert werden können.
1. Die These, dass dem volksgeschichtlichen Ansatz bis 1930/33 letztlich unüberwindliche Hürden gesetzt worden seien, ist schwerlich haltbar. Vom Siechtum der Leipziger Stiftung unbeeindruckt, boomte nämlich die Institutionalisierung der ethnohistorisch grundierten Landesgeschichte. Ihre bis dahin beispiellose ministerielle und provinzbehördliche Förderung veranschaulicht, dass die Volksgeschichte nicht allein auf den 'Grenzkampf' abstellte, sondern gleichzeitig auch innerdeutsche Probleme der 'Raum- und Volkstumsbildung' anging. In Allianz mit der - sogar von demokratischen Parteien finanzierten - Heimatbewegung oblag es der von Aubin, Steinbach usw. vertretenen, im 'Ruhrkampf' zu Reputation gelangten Kulturraumforschung, Vorschläge zur 'Wiederanbindung' der 'zivilisationsgeschwächten' Deutschen an ihren 'Boden', an ihre überlieferungsgerechte 'Tradition' und an ihre Geschichte zu unterbreiten. Historische Reflexionen über den Zusammenhang von 'Stamm und Landschaft', 'Heimat und Landsmannschaft' leisteten kongeniale Beiträge zur 'Neugliederung der Reichsländer', weniger zum rassistischen 'Grenzkampf' im Osten (S. 92ff.). Die 'heimatbewegte' Komponente blieb für die regionalistische Variante der Volksgeschichte konstitutiv.
2. Das glänzende Portrait der "kritischen Schule des Historismus"
hätte mit grösserer Vorsicht bzw. mit schärferem
Realitätssinn gemalt werden müssen. Gewiss, Goetz war ein aufrechter
Liberaler, der gegen völkischen Ungeist stand. Dass Meinecke eine
demokratische Schülerschaft hatte, ist unbestritten. Ihre Emigration
hat den methodisch und intellektuell fruchtbarsten Zweig der deutschen
Geschichtswissenschaft gewaltsam abgetrennt.
Dieser Hinweis beleuchtet freilich nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen
steht, dass Oncken die 'grenzkämpferische' Volksforschung der zwanziger
Jahre nach Kräften unterstützt hat, dass Ritter, der den
Nationalsozialismus als jacobinistischen Import verstand, Luthers Werk eine
solche Tiefe attestierte, dass es lediglich indigenen Deutschen zugänglich
sei, und dass Meinecke selber 1915 vorschlug, deutsches "Volkstum im Osten
auf neuem Grund einzupflanzen". Dazu sollten die Letten aus Kurland nach
Russland "abgeschoben" werden. Solche Befunde tauchen die "kritischen" Vertreter
des 'etatistischen' Historismus in ein weniger freundliches Licht. Der
zeitgenössische Ethnozentrismus schien ihnen nicht fremd gewesen zu
sein. Dementsprechend haben sie z. B. Aubin niemals den professionellen Respekt
versagt. Was die Staatshistoriker in der Tat ablehnten, war die Intriganz
Brackmanns und das politische Konjunkturrittertum eines Walter Frank, der
seinerseits wiederum kaum Verbindungen zur Ostforschung unterhielt. Von sich
aus hätten Meinecke, Oncken und Ritter - wie in den zwanziger und nicht
zu vergessen in den fünfziger Jahren - ein arbeitsteiliges Arrangement
mit Teilen der Volksgeschichte wahrscheinlich zu treffen gewusst.
3. Dieser Verdacht drängt sich u. a. deshalb auf, weil ihnen das Prinzip
der 'Geheimwissenschaft' seit 1918 vertraut war. Die Geschichte international
um sich greifender wissenschaftlicher Exklusionen und 'Diskursverweigerungen'
kann hier nicht wiedergegeben werden. Sie blieb nach der Polarisierung des
Weltkrieges nicht auf das - dafür allerdings hauptverantwortliche -
Deutsche Reich beschränkt und war obendrein weniger intensiv, als Haar
annimmt. Innerhalb Deutschlands stellte sich die zuvor bereits viel rezensierte
Volksgeschichte auf den Historikertagen von 1924 und 1932 zur programmatischen
Diskussion. Dort erfuhr sie die Akklamation der "kritischen Schule".
Ausländische Historiker haben die Arbeiten Franz Petris und Steinbachs
ebenso rezipiert, wie jene der Ostforschung. Das spricht gegen die Projektion
einer ethnoradikalen Arkanwissenschaft mit durchgängiger Agentenattitude.
Träfe sie grundsätzlich zu, wäre zu klären, wieso etwa
Königsberger 'Bevölkerungswissenschaftler', die in diskreten
Auslandseinsätzen destillierte Theorie von der unerlässlichen
'Entjudung' polnischer Städte ausgerechnet auf einem internationalen,
auch von westlichen Gelehrten besuchten Soziologentag ausbreiten wollten.
Sodann wäre zu fragen, aus welchem Grund Aubins Überlegungen zur
Entstehung des östlichen deutschen 'Kulturbodens' noch 1942 in
Grossbritannien gedruckt wurden oder welcher Teufel die SS-nahen Konzepteure
der 'Neuordnung des Ostraums' ritt, als sie ihre Entwürfe - wenn auch
nicht in jedem mörderischen Detail, so doch mit verblüffender Offenheit
- in Zeitschriften, wie 'Neues Bauerntum', 'Reich - Volksordnung - Lebensraum',
'Raumforschung und Raumordnung' und 'Heimatleben' publizierten.
4. a) Das Netz der NOFG-Ostforschung reichte weit, seine Knoten waren aber
nicht kongruent geschürzt.
b) Eine 'monokratische' Zentralisierung der Ostforschung wurde
u. a. von Brackmann angestrebt. Sie fand jedoch nicht statt.
Zu a) Weder lässt sich Aubins tentativer Gebrauch des Rassenbegriffs
mit Ipsens notorischem Rassenantisemitismus umstandslos gleichsetzen, noch
sollte man die den gesamten 'Ostraum' umfassende agrarsoziologische
'Bevölkerungslehre' ostpreussischer Herkunft ohne weiteres mit der in
Breslau vorherrschenden, in erster Linie 'grossschlesisch' intendierten
Kulturraumforschung parallelisieren. Ferner ist nicht auszumachen, wo die
unzähligen konventionellen, narrativen, absolut nicht anwendungsorientierten
Abhandlungen der Ostforschung in Brackmanns Forschungssystem anzusiedeln
sind.
Zu b) Die 'Begleitforschung' des geplanten 'Ostaufbaus' wurde nicht monoton,
sondern durchaus vielstimmig betrieben. Das 'Ahnenerbe', das 'Amt Rosenberg',
die östlichen Gaukulturämter, der wissenschaftliche Beraterstab
des Ostministeriums, der 'Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften'
sowie - nicht zuletzt - die geschichtsmissionarisch 'argumentierenden'
Mitarbeiter der regionalen und überregionalen Raumordnungsinstanzen
oder des Architekturbüros der 'Deutschen Arbeitsfront' liessen sich
nicht an einem einzigen Gängelband führen. Der verbindliche
Ethnozentrismus der Ostforschung wirkte als eine Klammer, die verschiedene,
häufig scharf konkurrierende wissenschaftliche Fraktionen und Einrichtungen
locker verband, ohne sie homogenisieren zu können. Eine Vereinheitlichung
der Ostforschung gelang bis zum Kriegsende nicht einmal dem
wissenschaftspolitisch engagierten SD.
5. Kann man wissenschaftliche Innovationen nach ihrem Beitrag für den
Fortschritt der menschlichen Zivilisation bewerten? Diese Frage ist interessant.
Sie verweist auf die Notwendigkeit, abstrakte Begriffe wie 'Fortschritt'
inhaltlich gründlich auszuloten und verleitet zu der Überlegung,
welche historiographischen Leistungen dem gewählten Richtmass genügen
könnten.
Die Volksgeschichte, soviel steht fest, hat sie auf keinen Fall erbracht.
Ihre ideologische Aufladung und politische Dienstbereitschaft standen im
erklärten Gegensatz zu Zivilität und Humanität. Aber diese
Feststellung sagt wenig darüber aus, wieso viele hochbegabte, fachlich
kompetente, thematisch dezidiert reformbereite und verfahrenstechnisch
tabubrechende Historiker verschiedener Generationen der anscheinend multivalenten
'Faszination' des Volkstumsgedankens erlagen. Der exzeptionellen
Durchsetzungsfähigkeit einer Lamprecht und Kaindl rehabilitierenden
Volksgeschichte, ihrem ganz und gar modernen Machbarkeitswahn, ihrer Vorstellung,
mit planifizierender Rationalität und z. T. grausamster Entschlossenheit
einen ethnozentrisch planierten Weg durch die Komplexität 'ungelöster'
Gegenwartsfragen bahnen zu können, lag weit mehr zugrunde, als eine
verschwörerische wissenschaftliche Kartellbildung oder die ruchlose
Umtriebigkeit ehrgeiziger und sinisterer Charaktere.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Willi Oberkrome (Freiburg)
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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