Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Armin Nolzen
Anzuzeigen ist eine Biographie über Rudolf Heß, den ehemaligen Stellvertreter des Führers (StdF), einen der wohl meistunterschätzten Funktionäre des "Dritten Reiches". Sie stammt aus der Feder von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker, zwei wichtigen Exponenten der Geschichtswissenschaften der vormaligen DDR. Beide Autoren sind ausgewiesene Experten der NS-Forschung und zudem ein eingespieltes Team. Schon 1981 haben sie eine Geschichte der NSDAP von 1920-1945 publiziert, die inzwischen grundlegend überarbeitet wurde und immer noch die einzige deutschsprachige Gesamtdarstellung zu diesem Thema bildet [1]. 1995 haben Pätzold und Weißbecker eine von der Öffentlichkeit leider kaum wahrgenommene Hitler-Biographie veröffentlicht [2] und ein Jahr später eine biographische Sammlung führender Nationalsozialisten herausgegeben [3]. Mit ihrer Heß-Biographie betreten die Autoren Neuland, denn bislang gibt es keine seriöse, wissenschaftlichen Kriterien genügende Darstellung zum Lebensweg des StdF [4]. Dies ist umso bedauerlicher, existieren gerade über Heß zahlreiche Legenden, die sich hauptsächlich um seinen England-Flug vom 10. Mai 1941 ranken, mit dem er die britische Regierung von der angeblichen Sinnlosigkeit des Krieges gegen das Deutsche Reich überzeugen und einen Separatfrieden erreichen wollte. Darüber hinaus avancierte Heß seit 1989/90 zur Integrationsfigur vieler Rechtsradikaler, die in ihm einen "Friedensengel" und eine "gute Seite" des Nationalsozialismus repräsentiert sehen. Höchste Zeit, dieses vollkommen verquere Bild von Heß zurechtzurücken und seine Mitwirkung an der verbrecherischen Politik des Nationalsozialismus einmal in den Blick zu nehmen.
Pätzold und Weißbecker nähern sich Heß' Persönlichkeit, indem sie zuerst einmal dessen Kindheit und Jugend skizzieren und nach prägenden Einflüssen auf die politische Sozialisation des späteren StdF fragen. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges unterschied sich Heß' individueller Lebensweg nur graduell von jenen Erfahrungen, die die im Spätwilhelminismus sozialisierte Generation gemacht hatte. Kaum etwas deutete darauf hin, daß er sich irgendwann einmal in die Politik begeben, geschweige denn in rechtsradikalen Kreisen aktiv werden würde. Seine beiden Biographen konzedieren Heß zwar "nationalkonservative Deutschtümelei und nationalistische Überheblichkeit", wollen ihn aber im selben Atemzuge als unpolitischen Charakter sehen (S. 20). Umso erstaunlicher mutet es in diesem Zusammenhang an, daß Heß nach seiner Demobilisierung im Dezember 1918 gleich in die Münchener Thule-Gesellschaft eintrat. Weg, der Heß innerhalb von wenigen Monaten ins antirepublikanische Lager führte, wird jedoch von seinen Biographen nachgezeichnet, als sei er selbstverständlich gewesen. Heß' Motivation wird ebensowenig ausgeleuchtet wie die Einflüsse, die seine Umwelt - Familie, Freunde, Bekannte und die spezielle Münchener Situation der Jahre 1918/19 - auf seine politische Sozialisation hatten. Von einer modernen politischen Biographie darf man, ohne Umschweife gesagt, mehr erwarten.
Heß' Bekanntschaft mit Hitler verlegen die Autoren, im Gegensatz zur bisherigen Ansicht der Forschung, die ein erstes Zusammentreffen im Mai 1920 annimmt, um mehr als ein Jahr vor (S. 31 u. 34). Plausible Belege für diese Annahme bleiben Pätzold und Weißbecker schuldig. Gesichert ist lediglich, daß Heß am 1. Juni 1920 der NSDAP beitrat. Binnen kürzester Zeit avancierte er zum engsten Vertrauten Hitlers und setzte alles drauf und dran, daß sein "Tribun" in der Münchener NSDAP als unumschränkter "Führer" anerkannt wurde. Nach der Parteikrise vom Juli 1921 inszenierte Heß zum Zweck der Machtsicherung einen beispiellosen innerparteilichen Kult um seinen "Tribunen" (S. 41). Anhand einer programmatischen Schrift von 1922 zeigen Pätzold und Weißbecker, auf welche Art und Weise Heß den "Führermythos" inhaltlich weiterentwickelte (S. 44 f.). Sein Verhältnis zu Hitler charakterisieren sie als Führer-Gefolgschafts-Beziehung, wobei Heß bisweilen aber auch Kritik geäußert habe (S. 42). Außerdem sei es Heß gewesen, der Hitler mit den geopolitischen Ideologemen des Geographen Karl Haushofer vertraut gemacht habe, in erster Linie mit dem "Lebensraum"-Motiv (S. 38, 41, 51 u. 56 f.). Daß dies, wie die beiden Autoren insinuieren, auf Haushofers eigene Initiative hin geschah, ist jedoch ebenso fraglich wie ihre Ansicht, der Münchener Geograph habe auf Heß mindestens einen ebenso großen Einfluß wie Hitler selbst gehabt [5]. Heß war seinem "Tribunen" vollkommen ergeben. Er folgte Hitler sowohl in das Abenteuer des Münchener Putschversuches vom 8./9. November 1923 als auch in die Landsberger Festungshaft.
Der für Heß' Werdegang so wichtigen Periode von 1924 bis 1933 wenden sich Pätzold und Weißbecker dann in ihrem 2. Kapitel zu, das sie unter das Motto "Ich eigne mich als Bindeglied" gestellt haben. Damit nehmen sie eine Wendung auf, die Heß am 24. April 1925 in einem Brief an seine Eltern benutzte (S. 60 u. 442 ff.). In diesem Schreiben bezeichnete er sich als Mittler zwischen nationalsozialistischen und bürgerlichen Kreisen, als "Vorkämpfer" des "Führers" innerhalb des Bürgertums. Heß' hybrides Selbstverständnis hätte ein glänzendes Analyseraster geboten, um systematisch der Frage nachzugehen, auf welche Art und Weise es der NSDAP seit 1929/30 gelang, große Teile des Weimarer Bürgertums für sich zu gewinnen und welchen Anteil Heß selbst an dieser Entwicklung hatte. Wie erfolgreich er in bürgerlichen Kreisen als Multiplikator Hitlers wirkte, muß aber offen bleiben, denn Pätzold und Weißbecker beschränken sich in diesem 2. Kapitel, das mit 35 Seiten bloß ein Zehntel der gesamten Biographie umfaßt, auf das Verhältnis zwischen Hitler und Heß. Die Rolle, die Heß in diesem Zeitraum in der NSDAP spielte, wird nur beiläufig gestreift (S. 61, 67 u. 79). Lediglich die Parteikrise nach dem Rücktritt von Reichsorganisationsleiter Gregor Straßer am 9. Dezember 1932 wird ausführlicher analysiert. Der Ansicht der Autoren, daß Heß mit seiner Ernennung zum Leiter der Politischen Zentralkommission, die nach Straßers Rücktritt erfolgte, "faktisch eine Vollmacht" bekam, "alle Parteiangelegenheiten im Namen Hitlers zu regeln" (S. 83), vermag sich der Rezensent allerdings nicht anzuschließen. Da Pätzold und Weißbecker die reichhaltige Literatur zur Geschichte der NSDAP zwischen 1919 und 1933 systematisch ignorieren, fehlt es ihrer Darstellung nicht nur an dieser Stelle an der notwendigen Präzision.
Eine deutliche Verbesserung in der inhaltlichen Qualität läßt sich demgegenüber in den übrigen sechs Kapiteln der vorliegenden Biographie feststellen. In Kapitel 3 schildern die Autoren zunächst die Vorgänge, die am 21. April 1933 zu Heß' Ernennung zum StdF führten. Der StdF sollte, so der Wortlaut der entsprechenden Verfügung Hitlers, "in allen Fragen der Parteileitung in meinem Namen entscheiden" können [6]. Wie Pätzold und Weißbecker prononciert herausarbeiten, oblag Heß nunmehr die Leitung der NSDAP, die seit 1933/34 zu einem riesigen Apparat mit über 2,5 Millionen Mitgliedern angeschwollen war (S. 88-94). Dann skizzieren sie den Aufbau einer eigenen Dienststelle, die Heß als neuer StdF betrieb. Als Stabsleiter dieser Behörde fungierte Martin Bormann, den Pätzold und Weißbecker zunächst mit seinem in Hitlers Adjutantur beschäftigten Bruder Albert verwechseln (vgl. S. 87 mit S. 95). Das Verhältnis zwischen Heß und seinem Stabsleiter Bormann wird zutreffend als fast konfliktfrei charakterisiert (S. 95-100). Beide praktizierten eine Art Arbeitsteilung: Heß war eine charismatische Figur, und durch zahlreiche öffentliche Auftritte wurde er bald zu einem der bekanntesten Redner des "Dritten Reiches". Der rednerisch vollkommen unbegabte Bormann, der Prototyp des Bürokraten, sorgte im Stab Heß hingegen für den reibungslosen Ablauf der alltäglichen Dienstgeschäfte.
Im Mittelpunkt von Heß' Tätigkeiten 1933/34 stand - wie die Autoren überzeugend ausführen - das Vorgehen gegen "falsch verstandene Vorstellungen von der nationalsozialistischen Revolution" (S. 117). Einem Auftrag Hitlers folgend, sollte der StdF die Parteirevolution von unten abstoppen, die sich nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Bahn brach [7]. Hierbei wandte er sich in erster Linie gegen die Aspirationen der SA, deren revolutionärer Aktivismus Hitler zu diesem Zeitpunkt ein Dorn im Auge war (dies betraf natürlich nicht die terroristische Unterdrückung politischer Gegner). Außerdem war Heß bestrebt, die revolutionäre Außenpolitik, die von den NSDAP-Dependancen in Österreich, im Saarland und in der Freien Stadt Danzig und von der Auslandsorganisation in Übersee entfacht wurde, zu mildern (S. 131-140). Die Autoren ordnen diese Aktivitäten recht einleuchtend in den Kontext der außenpolitischen Konsolidierung des nationalsozialistischen Regimes ein. Auch bei der Verfolgung potentieller Regimegegner spielte der StdF eine zentrale Rolle und war eine treibende Kraft beim Schlag gegen der SA am 30. Juni 1934 (S. 118-128). Daß er das alleinige Antragsrecht bei jeder Einleitung von Strafverfahren nach dem "Heimtückegesetz" besaß, ist eine Beobachtung, der die Autoren leider nicht nachgehen (S. 123 f.). Jedenfalls leistete Heß 1933/34, so darf man wohl schlußfolgern, einen wesentlichen Beitrag zur inneren und äußeren Stabilisierung des "Dritten Reiches".
Im 4. Kapitel widmen sich Pätzold und Weißbecker dann zunächst den Kompetenzen des StdF im staatlichen Bereich. Heß, der im Zusammenhang mit dem "Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat" vom 1. Dezember 1933 zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich ernannt worden war, besaß nach einem Erlaß Hitlers vom 27. Juli 1934 "bei der Bearbeitung von Gesetzentwürfen in sämtlichen Reichsressorts die Stellung eines beteiligten Reichsministers" [8]. Pointierter ausgedrückt, gab es nach diesem Erlaß im "Dritten Reich", abgesehen von "Führererlassen" und Ministerialverordnungen, kein Gesetz mehr, dem der StdF oder sein Stab nicht ausdrücklich zugestimmt hatte. Mit seinem fast unbegrenzten Vetorecht in der Gesetzgebung übte Heß, dies arbeiten die Autoren zutreffend heraus, ein "besonderes politisches Richteramt aus, das seinen Einfluß auf die Innenpolitik vermehrte" (S. 149). Die Kompetenzen des StdF in der staatlichen Beamtenpolitik waren im übrigen ähnlich strukturiert, worauf Pätzold und Weißbecker allerdings nur kurz eingehen (S. 198 ff.) [9]. Sie konzentrieren sich auf Heß' innerparteiliche Herrschaftstechniken und sein Ziel, die NSDAP "in eine auf den kleinsten Wink der Kommandeure ausgerichtete Marschkolonne zu verwandeln" (S. 155). Der weitere institutionelle Ausbau des Stabes Heß (S. 146-156) und die skurrilen Ermahnungen des StdF an die Parteifunktionäre, das Rauchen zu unterlassen und sich nicht an "Festessen" zu beteiligen (S. 164-169), werden breit referiert. Demgegenüber vernachlässigen die Autoren die personalpolitischen Steuerungsmöglichkeiten des StdF in der NSDAP, so bei der Absetzung von Parteifunktionären und im Parteigerichtsverfahren. Die Beantwortung der Frage, inwieweit es dem StdF und seinen Mitarbeitern überhaupt gelang, die NSDAP zu kontrollieren, unterbleibt ebenfalls.
Diese Frage wird in Kapitel 5, das den Zeitraum von September 1939 bis April 1941 umfaßt, dann sporadisch wieder aufgenommen (S. 214 f. u. 228 ff.), ohne daß eine weitergehende Analyse erfolgt. Sicherlich war Heß als "Befehlshaber im rückwärtigen Dienst" (S. 227) im Zweiten Weltkrieg zunächst eine der zentralen Figuren an der "Heimatfront". Es hätte allerdings einiger anschaulicherer Beispiele als des eigentümlichen "Briefes an eine unverheiratete Mutter" von Dezember 1939 bedurft, um diese Hypothese zu belegen (S. 224 ff.). Was die Beteiligung des StdF an der nationalsozialistischen Rassenpolitik angeht, sind die Ausführungen der Autoren dann aber erfreulich klar. Heß wirkte daran mit, die polnische Bevölkerung in den eingegliederten Ostgebieten zu "Heloten" zu degradieren, plädierte nach dem Beginn des Einsatzes von Zwangsarbeitern im "Altreich" für eine rigorose Trennung zwischen deutschen sowie "fremdvölkischen" Arbeitern und unterstützte die 1939/40 angelaufene "Euthanasie-Aktion" rückhaltlos (S. 249-252). Die Ausführungen zur kirchenfeindlichen Politik des StdF leiden hingegen unter einer falschen Datierung des Dokumentes, das die Autoren in diesem Kontext interpretieren (S. 258, richtiges Datum: 18. April 1940). Alles in allem sind diese Passagen zu unsystematisch geraten, weil Pätzold und Weißbecker das von ihnen ausgebreitete Quellenmaterial nicht strukturieren.
Die Kapitel 6 und 7 behandeln Verlauf und Folgen des Heß-Fluges vom 10. Mai 1941, und dabei gelingt es Pätzold und Weißbecker, einige eindrucksvolle Akzente zu setzen. Sowohl die Reaktionen der deutschen als auch die der britischen Seite werden minutiös rekonstruiert und die weltgeschichtliche Tragweite des Fluges herausgearbeitet. Dabei schließen sich Pätzold und Weißbecker nicht den fragwürdigen Interpretationen an, die immer noch durch die seriöse wissenschaftliche Literatur geistern (S. 267 f. u. 281 f.) und zuletzt durch Rainer F. Schmidts abstruse Hypothese, der britische Geheimdienst habe Heß nach England "gelockt", neue Nahrung erhalten haben [10]. Demgegenüber warten sie mit einer abwägenden Deutung der Ereignisse auf. Mit guten Argumenten schließen sie sich der Ansicht an, wonach der StdF auf eigene Faust gehandelt habe, um Hitlers fixe Idee von einem Bündnis mit England (die aus den frühen 1920er Jahren stammte) in die Tat umzusetzen (S. 275-283). Als Vollstrecker der Weltanschauung seines "Führers" scheiterte Heß in diesem Fall allerdings völlig. Dieses Scheitern führte Heß zunächst vier Jahre in britische Kriegsgefangenschaft und dann, sein letzter öffentlicher Auftritt, auf die Anklagebank des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses. In Nürnberg, dies zeigen Pätzold und Weißbecker, entwickelten die Alliierten ein äußerst realistisches Bild von der Tätigkeit des StdF als "Maschinisten", der den Parteiapparat bedient und die NSDAP intakt gehalten habe (S. 319). Am 1. Oktober 1946 wurde der frühere StdF in den Anklagepunkten 1) und 2) - Verbrechen gegen den Frieden und Entfesselung eines Angriffskrieges - schuldig gesprochen. In den Anklagepunkten 3) und 4) hingegen - Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit - reichte das vorliegende Beweismaterial nicht für eine Verurteilung aus (S. 324 f.). Das Gesamturteil lautete auf lebenslange Haft. Am 18. Juli 1947 überstellten ihn die Alliierten schließlich ins Kriegsverbrechergefängnis nach Berlin-Spandau.
Im letzten Kapitel behandeln die Autoren dann die Zeitspanne zwischen 1947 und 1987, die Heß in Spandau in alliiertem Gewahrsam verbrachte, seit dem 1. Oktober 1966 als einziger Häftling. Wichtigstes Kennzeichen für die mehr als 40 Jahre währende Gefangenschaft war Heß' Motto "Ich bereue nichts ...". Der frühere StdF, das machen Pätzold und Weißbecker eindringlich klar, war unter den unzähligen Unbelehrbaren nach dem Zweiten Weltkrieg der Unbelehrbarste. Angesichts der demonstrativ zur Schau getragenen Attitüde des früheren StdF, der nicht die geringste Reue für seine zwischen 1933 und 1941 begangenen Taten empfand, kann es nicht weiter verwundern, daß die Alliierten eine vorzeitige Entlassung des früheren StdF, wie sie von seinem Sohn Wolf-Rüdiger gefordert wurde, ablehnten. Am 17. August 1987 starb Heß in Spandau schließlich an den Folgen eines Selbstmord-Versuches.
Trotz dieses eindrucksvollen Schlußkapitels bleibt die Bilanz des vorliegenden Buches, darauf sei abschließend hingewiesen, durchaus ambivalent: Pätzold und Weißbecker ist es gelungen, die immense Bedeutung, die Heß als StdF im "Dritten Reich" besaß, überzeugend herauszuarbeiten. Die Leistung ihrer Biographie liegt in einer Revision der selbst in der seriösen historischen Forschung immer noch kolportierten Fehleinschätzung, Heß sei nicht mehr als ein skurriler Einzelgänger und für den Prozeß der politischen Willensbildung im "Dritten Reich" bedeutungslos gewesen. Dieses wichtige Ergebnis wird durch die Tendenz der Autoren zur unsystematischen Aneinanderreihung einzelner Beobachtungen jedoch konterkariert. Pätzolds und Weißbeckers anekdotischer Erzählstil führt dazu, daß Heß' politische Grundüberzeugungen und Verhaltensweisen zwar konstatiert, kaum aber im Sinne historischer Interpretation analysiert werden. Ich will dies an einem Einzelbeispiel erläutern: Die Autoren referieren die antisemitischen Äußerungen des StdF (S. 156-164), erklären in diesem Zusammenhang aber nicht, wie er zum Antisemiten wurde (S. 38, ähnlich auch S. 25). Ebenso lassen Pätzold und Weißbecker keinen Zweifel daran, daß der Antisemitismus für Heß im Mittelpunkt seines administrativen Wirkens als StdF stand (S. 215-222), untersuchen aber kaum, auf welche Art und Weise er seine antisemitischen Ressentiments in praktische Politik goß. Dadurch bleibt Heß' Scharfmacherrolle beim "Judenboykott" am 1. April 1933, bei der Terrorwelle gegen die Juden im Sommer 1935 (die letztlich zu den "Nürnberger Gesetzen" führte) und bei der "Reichskristallnacht" am 9. / 10. November 1938 fast vollkommen im Dunkeln. Pätzold und Weißbecker haben sicher einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, daß die Person des StdF von der historischen Forschung ernster genommen wird, als dies bisher geschehen ist. Das letzte Wort in Sachen Rudolf Heß haben sie meines Erachtens allerdings noch nicht gesprochen.
Anmerkungen:
[1] Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920-1945, Köln 1998 (ursprünglich unter dem Titel "Hakenkreuz und Totenkopf: Die Partei des Verbrechens" 1981 in Ost-Berlin erschienen und unter dem heutigen Titel zugleich im Kölner Pahl-Rugenstein-Verlag in der Bundesrepublik Deutschland aufgelegt).
[2] Dies.: Adolf Hitler. Eine politische Biographie, 2. Aufl., Leipzig 1999 (ursprünglich erschienen: 1995).
[3] Dies. (Hrsg.): Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen, 2. Aufl., Leipzig 1999 (ursprünglich erschienen: 1996).
[4] Dies gilt auch für Peter Padfield: Hess. Flight for the Führer, London 1991.
[5] Diese beiden etwas verschwörungstheoretisch anmutenden Hypothesen haben Pätzold und Weißbecker dem Buch von Bruno Hipler: Hitlers Lehrmeister. Karl Haushofer als Vater der NS-Ideologie, St. Ottilien 1996, entnommen.
[6] Adolf Hitler: Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, hrsg. von Max Domarus; 2 Bde., Neustadt an der Aisch 1962-1963, hier: Bd. 1, S. 257.
[7] So der von Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, 13. Aufl., München 1992 (ursprünglich erschienen: 1969), S. 246-252, geprägte Begriff.
[8] Der Wortlaut dieses Erlasses findet sich in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (14. November 1945 - 1. Oktober 1946); 42 Bde., Nürnberg 1947-1949; hier: Bd. XXXV, S. 16 f. (= Dokument 138-D).
[9] Hierzu vor allem die bahnbrechende Studie von Peter Longerich: Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München / London / New York / Paris 1992, S. 40-89, die Pätzold und Weißbecker nur unzureichend rezipieren.
[10] Rainer F. Schmidt: Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"? Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941, Düsseldorf 1997, S. 127-171.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Armin Nolzen, Bochum, Email: <armin.nolzen@ruhr-uni-bochum.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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