Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Wilfried Nippel
Die welthistorische Bedeutung des Prozesses gegen Jesus (wahrscheinlich im Jahre 30) bedarf keiner Erläuterung; im Falle des Verfahrens, das zwei römische Statthalter gegen Paulus durchführen (Datierung unsicher, zwischen 57 und 61), liegt sie darin, daß Paulus schließlich nach Rom verbracht wird, wo er nach frühchristlicher Tradition den Märtyrertod gefunden haben soll. Das Vorgehen der römischen Behörden ist in beiden Fällen immer wieder von Theologen, Historikern, Juristen untersucht worden. Ein Grund dafür ist auch, daß mit den Berichten im Neuen Testament für die frühe Kaiserzeit ungewöhnlich ausführliche Darstellungen über die Ausübung römischer Strafjustiz gegenüber angeblichen politischen Aufrührern in einer Provinz vorliegen, auch wenn Judäa in mancherlei Hinsichten ein Sonderfall ist. Allerdings weisen beide Prozesse auch erhebliche Unterschiede auf. Jesus stammt aus Galiläa, das seinerzeit noch nicht zur römischen Provinz Judäa gehört; Paulus besitzt (nach der Apostelgeschichte) das römische Bürgerrecht; Jesus wird vom Statthalter Pontius Pilatus während dessen Aufenthalt in Jerusalem im Beisein einer jüdischen Volksmenge verurteilt, Paulus zwar von den römischen Truppen in Jerusalem festgesetzt, zu seinem Prozeß dann aber an den regulären Statthaltersitz in Caesarea überstellt, wo sich die jüdische Volksstimmung nicht unmittelbar geltend machen kann; dort wird der Prozeß eröffnet, vom Statthalter Felix aber ohne Entscheidung verschleppt und dann erst von dessen Nachfolger Festus wieder aufgenommen; dieser erkennt den Antrag des Paulus an, daß er als römischer Bürger Anspruch auf ein Verfahren vor einem kaiserlichen Gericht in Rom habe; die Apostelgeschichte schildert zwar die Überstellung des Apostels nach Rom und seine Untersuchungshaft dort, schweigt jedoch zum Ausgang des Verfahrens; ob oder wie sein in der christlichen Tradition seit Ende des 1. Jahrhunderts (1. Clemens-Brief) bezeugter Märtyrertod mit dem ursprünglichen Verfahren im Zusammenhang steht, ist völlig offen. [1]
Die prima facie gute Quellenlage zum Prozeß Jesu bietet dennoch eine Reihe von Problemen (von denen der historischen Verwertbarkeit von Zeugnissen, die eine heilsgeschichtliche Botschaft vermitteln wollen, ganz abgesehen). So sind die Differenzen zwischen den synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium erheblich; aber auch innerhalb der synoptischen Tradition gibt es bemerkenswerte Unterschiede, wobei das Lukas-Evangelium am deutlichsten von der ältesten Darstellung bei Markus abweicht. Hier setzt die Würzburger theologische Dissertation von Erika Heusler ein, die diese Besonderheiten bei Lukas nicht aus der Verwendung zusätzlicher Quellen verstanden wissen will, sondern als bewußt eigenständige Darstellung, die ein besonderes Interesse an den prozessualen Abläufen vor dem Gericht des Statthalters ausweist. Da dies - noch deutlicher - auch für die lukanische Apostelgeschichte festzustellen ist, versucht Heusler aus dem Vergleich der Berichte über die Prozesse Jesu und Pauli vor den römischen Statthaltern jenes Bild zu rekonstruieren, das Lukas sich von einem ordnungsgemäßen Verfahren gemacht hat.
Grundsätzlich leuchtet Heuslers methodischer Ansatz ein, einmal nicht - wie in der Literatur [2] gängig - einzelne Punkte der Darstellung durch Vergleich mit der außerbiblischen Überlieferung als historisch korrekt bzw. plausibel (oder auch nicht) zu qualifizieren, sondern zuerst das Lukas vorschwebende Bild des Verfahrens nachzuzeichnen und dann in einem zweiten Schritt zu fragen, woher er diese Vorstellung gewonnen haben könnte, wenn sich dies denn nicht mit der Vorwegannahme verbinden würde, Lukas sei von der Gleichartigkeit der Verfahren ausgegangen. Heusler geht im allgemeinen so vor, daß sie die deutlichere, mit expliziten Verweisen auf ein angemessenes Verfahren versehene, Darstellung in der Apostelgeschichte (=Apg im folgenden) heranzieht, um die Passionsgeschichte im Evangelium des Lukas (=Lk) besser verstehen zu können. Sie kann auch überzeugend darlegen, daß sich in Lukas' Umarbeitung der markinischen Vorlage ein deutliches Interesse an der Prozeßform niedergeschlagen hat.
Lukas habe sich ein ordnungsgemäßes Verfahren so vorgestellt, daß es aus einem Vorverhör und einer in drei Sitzungen durchgeführten Hauptverhandlung bestehe. (Höchst irritierend ist, daß diese einzelnen Verfahrensabschnitte von Heusler durchgehend als "Instanzen" bezeichnet werden). Auffällig ist, daß bei Lukas (im Gegensatz zu Markus) das Verhör Jesu vor dem Hohen Rat nicht als mit einem Urteil endende Gerichtsverhandlung geschildert wird, sondern als eine Befragung, auf die dann die Erhebung der Anklage gegen Jesus durch die Repräsentanten der Juden folgt. Daraus ergibt sich eine Parallele zum Fall des Paulus; eine weitere zeigt sich darin, daß jeweils die ursprünglichen Beschuldigungen des Verstoßes gegen jüdische Gesetze in eine Anklage wegen Aufruhrs gegen die römische Herrschaft "übersetzt" werden müssen, damit der Statthalter sich überhaupt für zuständig halten kann. Beim Konflikt um Paulus in Jerusalem tagt das jüdische Gremium auf Wunsch des römischen Kommandanten, der Paulus festgenommen hatte (Apg 22, 30). Heusler überträgt dies auf den Fall Jesu: "Wenn das Synedrium zusammentritt, um eine Befragung Jesu anzustrengen, stellt dies in den Augen des Lukas zu keinem Zeitpunkt ein eigenständiges Unternehmen der jüdischen Führer dar [...], sondern ist von vornherein eingebunden in das Vorgehen der römischen Obrigkeit gegen den Delinquenten, ist ein erster Teil des großen römischen Prozesses gegen Jesus" (45). Wie dies zu einem Bericht passen soll, in dem von einer Involvierung der römischen Organe überhaupt noch nicht die Rede ist und auch die Festnahme Jesu eindeutig den jüdischen Autoritäten zugeschrieben wird, [3] ist nicht nachvollziehbar. Schon bei der Identifikation der ersten Stufe eines von Lukas für beide Verfahren unterstellten gleichförmigen Ablaufs ergeben sich also erhebliche Zweifel.
Bei der ersten Verhandlung vor dem Statthalter wird in beiden Fällen die Anklage vorgetragen, dem Angeklagten Gelegenheit zur Verteidigung gegeben, er zudem einer Befragung durch den Gerichtsherrn unterzogen. Es kommt jedoch noch nicht zu einer Entscheidung, sondern zu einer Vertagung. Kaum zu glauben ist, daß Lukas annehme, bei einem Strafprozeß solle bei "Uneinigkeit unter den Beteiligten" keine "vorschnelle Entscheidung" fallen (86 und 181), und das auch noch bei Verfahren, bei denen er den politischen Gehalt der Anklage, die Anstachelung zum Aufruhr gegen die römische Herrschaft, so deutlich herausstellt. Die weiteren Parallelen können (was Heusler allerdings übersieht, so 261) nur für die Wiederaufnahme des Prozesses gegen Paulus durch den neuen Statthalter Festus gelten, nachdem der Vorgänger Felix das Verfahren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt hatte. Eine weitere Beweisaufnahme findet nun durch Delegation der Verhandlungsführung an jüdische Herrscher statt, Herodes Antipas im Falle Jesu und Agrippa II. beim zweiten Prozeß des Paulus vor Festus. In beiden Fällen wird jedoch die Anwesenheit dieser Dynasten in Jerusalem bzw. Caesarea als - im Hinblick auf die Prozesse - zufällig dargestellt (Lk 23, 7; Apg 25, 13); eine sachliche Begründung für die Einbeziehung des Herodes Antipas könnte in seiner Eigenschaft als Herrscher von Galiläa, damit Landesherr Jesu, gegeben gewesen sein (Lk 23, 7), irgendeine rechtlich relevante Kompetenz Agrippas II. wird jedoch in der Apg nicht angedeutet. Selbst wenn man davon absieht, bleiben erhebliche Zweifel, ob - immer nach den lukanischen Berichten - hier die gleiche Verfahrensstufe vorausgesetzt werden kann. Im Bericht über Jesus vor Herodes mag man noch Andeutungen für eine Beweisaufnahme erkennen, bei Paulus vor Agrippa nicht. Letztere Verfahrensrunde findet an einem Punkt statt, an dem Paulus bereits die Überstellung nach Rom gefordert hat; die Verhandlung vor Agrippa sieht zwar wie die vor einem magistratischen Beirat aus (Apg 25, 23), daß dabei aber die Schwester/Lebensgefährtin Agrippas, Berenike, anwesend ist (Apg 25, 23; 26, 30), schließt aus, daß es sich um ein förmliches Verfahren vor einem Consilium gehandelt hat. Daß dieses Consilium hier einen kollektiven Beschluß gefaßt habe (253), läßt sich aus den Texten genausowenig entnehmen wie die Behauptung, Herodes Antipas und Agrippa hätten "konkret an der Urteilsfindung" mitgewirkt, so daß durch ihre "Amtshilfe" eine "kollegial gefundene Entscheidung" zustande gekommen sei (263f.). Die Ungereimtheiten, die sich in den Berichten aus der Einbeziehung der jüdischen Dynasten ergeben, lassen sich mit der traditionellen Erklärung, Lukas habe von möglichst vielen Seiten die Unschuld von Jesus bzw. Paulus feststellen lassen bzw. Paulus erneut eine Gelegenheit zur Darstellung seines Lebenswegs geben wollen, immer noch besser motivieren als mit der Annahme, er habe hier einen zwingend erforderlichen weiteren Termin der Beweisaufnahme darstellen wollen.
Im letzten Verfahrensabschnitt trifft schließlich der Statthalter seine Entscheidung. Zutreffend wird festgestellt (177), daß Festus mit der Gewährung der Überstellung an ein kaiserliches Gericht kein förmliches Urteil fällt; wieso dann aber Paulus "unschuldig verurteilt" worden sein soll (182), obwohl die Apg nichts über die Fortsetzung seines Prozesses in Rom berichtet, bleibt unerfindlich. Bei der Entscheidung über Jesus hat Pilatus das Volk zusammenrufen lassen und zum wiederholten Mal erklärt, daß nach seiner Erkenntnis der Angeklagte unschuldig sei, dann aber auf Grund der anhaltenden Forderung der Menge nach Kreuzigung diesem Ansinnen (ohne zuvor formal ein Urteil zu fällen) entsprochen und seine vorherige Ankündigung, er werde Jesus nach Geißelung freilassen, revidiert (Lk 23, 13-25). Dies sieht in der Tat danach aus, als habe Pilatus seine endgültige Entscheidung von der Akklamation der Volksmenge abhängig gemacht. Nach gängigen Deutungen erklärt sich dies einerseits aus der von Lukas vorgenommenen Schuldzuweisung an die Juden, andererseits als Folge eines politischen Kalküls des Statthalters, Unruhen in Jerusalem, zudem noch in der Passahwoche, zu vermeiden. Heuslers Deutung, hier werde "die enorme Macht [gezeigt], die dem Volk im Rahmen eines ordentlichen Kapitalverfahrens vor einem römischen Gericht zukommt" (176), erschließt sich erst nach ihren Erörterungen möglicher Vorbilder für das von Lukas zugrundegelegte Prozeßmodell.
Die zumal an Mommsen anschließenden Darlegungen zur Entwicklung des römischen Strafrechts müssen hier ebensowenig im einzelnen referiert werden wie die notorischen Probleme, wieweit (und gegenüber welchen Statusgruppen) stadtrömische Verfahrensordnungen auf Prozesse in den Provinzen übertragen wurden. Ob man den Typus eines ordnungsgemäßen Verfahrens in den Provinzen überhaupt rekonstruieren kann, sei dahingestellt; zutreffend ist jedenfalls Heuslers Feststellung, daß die lukanischen Berichte mit der Betonung von Öffentlichkeit, Anklage durch Dritte, Verteidigung und Beweisaufnahme eine prinzipiell faire Verfahrensweise mit wesentlichen Zügen eines Akkusationsprozesses unterstellen.
Mehr als überraschend ist, wenn sie dann als maßgebliches Modell für Lukas im Hinblick auf den Prozeß Jesu ein "magistratisch-komitiales Verfahren" im Sinne Mommsens erschließt, bei dem ein Magistrat die Initiative zur Strafverfolgung wahrnimmt, dann nach Voruntersuchung und drei Verhandlungsterminen vor der Volksversammlung sein Urteil fällt, gegen das wiederum der Angeklagte im Falle eines Schuldspruches Provokation bei der Volksversammlung einlegen kann, die dann als Berufungsinstanz das Urteil bestätigt oder aufhebt, es jedoch nicht abändern kann (257f.). Diese Rekonstruktion der Verfahren vor der Volksversammlung (die auch nach Mommsens Deutung mit der Einführung der ständigen Geschworenengerichte seit dem späten 2. Jahrhundert v. Chr. weitgehend obsolet und spätestens mit Augustus aufgehoben worden sind) gilt nach herrschender Meinung der Forschung spätestens seit Kunkels Arbeit von 1962 als widerlegt. [4] Dessen ungeachtet könnte man sich angesichts der notorischen Probleme der Rekonstruktion der Geschichte des römischen Strafrechts einmal hypothetisch auf den Standpunkt stellen, Lukas habe Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. (wie auch immer er dazu gekommen sein mag) das Bild eines Strafverfahrens vor Augen gehabt, das dem Mommsenschen Modell entspräche. Dann bleibt aber immer noch unerfindlich, wie die "frappante[n] Entsprechungen" auf Grund der Einbeziehung der Volksmenge für "Züge eines republikanischen Verfahrens" dieser Art sprechen sollen (258f.), obwohl hier (wie Heusler 258 selbst feststellt) die Anrufung des Volkes vom Gerichtsherrn, nicht vom Verurteilten ausgeht und weiter (was sie ignoriert) durch das Votum des Volkes die vorausgegangene Entscheidung des Gerichtsherrn (Geißelung und anschließende Freilassung) nicht bestätigt oder verworfen, sondern zur Todesstrafe (durch Kreuzigung) verschärft wird und schließlich auch noch die Zurufe einer Volksmenge nicht mit einem formalisierten Abstimmungsverfahren in einer Volksversammlung zu vergleichen sind. [5] Höchst unwahrscheinlich ist dies auch im Hinblick auf die Darstellungsabsicht des Lukas. Nach Heusler ist es Lukas darum gegangen, die Fairness römischer Strafverfahren auch im Falle Jesu zu beschreiben und dies noch dadurch zu unterstreichen, daß dem Angeklagten der Schutz von Verfahrensregeln zuteil wird, wie sie sonst für römische Bürger gelten. Die Darstellung bei Lukas zeigt - jedenfalls nach Heuslers Lesart - , daß alle Verfahrensregeln nicht davor schützen, daß die Entscheidung von den Willensäußerungen der Volksmenge abhängt - wahrlich, eine frohe Botschaft für die Christen, die sich des Schutzes durch die römischen Behörden sicher fühlen sollen (wie die Apg trotz der Hinweise auf das Fehlverhalten einzelner römischer Amtsträger suggeriert). Heusler zitiert zum Schluß (266) eine Bemerkung aus der Literatur, daß Lukas "eher Jurist als Arzt" gewesen sein könnte. Die Apg läßt dieses Urteil durchaus zu, sie zeigt aber zugleich, daß er nicht ein so schlechter Jurist war, wie es in diesem Buch dargestellt wird; auch eine rechtshistorisch überzeugendere Interpretation seines Passionsberichts [6] dürfte dies, wenn auch mit deutlichen Abstrichen, bestätigen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. H. W. Tajra, The Martyrdom of St. Paul. Historical and Judicial Context, Traditions, and Legends, Tübingen 1994.
[2] Bei einem Thema, zu dem die Sekundärliteratur Bibliotheken füllt, ist es gewiß leicht, auf nicht berücksichtigte Literatur hinzuweisen; auffällig ist dennoch das Fehlen solch wichtiger Arbeiten wie R. E. Brown, The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave. A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels, New York 1994, und H. W. Tajra, The Trial of Paulus. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of Apostles, Tübingen 1989.
[3] Lk 22, 47ff.; von römischen Ordnungskräften ist erst Johannes 18, 3. 12 die Rede; vgl. Brown 246ff. 1430f.
[4] Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899, 151-174; W. Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, München 1962.
[5] An welchen Orten und in welchen Kontexten (wozu auch die späteren Christenverfolgungen zu zählen wären) im Römischen Reich Urteilsfindung durch Akklamation denkbar wäre, kann hier nicht erörtert werden; abwegig ist jedenfalls die Verbindung mit dem Prozeß vor den Comitien.
[6] Er bietet genügend Anhaltspunkte für andere Deutungen, so u.a.: Zusammenrufen des Volkes im Kontext der Passah-Amnestie; Verurteilung des Angeklagten auf Grund seines Geständnisses, auch wenn es keine objektiven Anhaltspunkte für seine Schuld gibt; Inschrift auf dem Kreuz mit Angabe des Verbrechens.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Udo Hartmann .
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, <NippelW@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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