Wolfgang Eric Wagner, Universitaetsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spaetmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beitraege zur historischen Komparatistik, 2), Berlin: Akademie Verlag 1999, 448 S., Abb., ISBN 3-05-003428-9, Preis: DM 138,-.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Harald Müller

Mit der Dissertation Wolfgang Wagners liegt, obgleich mit der Nummer 2 versehen, die erste Publikation aus dem jungen 'Institut fuer vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter' (IVGEM) vor - gleichsam der erste Stier aus diesem "Stall", auf dem die (vergleichende) Europa reiten muss. Beide Rahmensetzungen, die vergleichende Perspektive und der europaeische Ausgriff sind auf dem Umschlag praesent: Der Vergleich im Untertitel, Europa in Gestalt der Regina Europa aus Sebastian Muensters Cosmographia (1588) unuebersehbar programmatisch als historisches Covergirl. [1]

Untersuchungsgegenstand sind Universitaetsstifte und mit ihnen in Verbindung stehende Kollegien als Schnittstellen zwischen universitaerem Autonomiestreben und stifterlicher Einflussnahme. Die Arbeit ordnet sich in das Forschungsfeld Memoria/Stiftungen ein und greift als Ausgangspunkt eine grundlegende Ueberlegung dieses Themenbereichs auf, dass sich naemlich Stiftungen in und mit einem eigentuemlichen Konflikt entwickeln. Zum einen ist der Stifterwille impulsgebend und konstitutiv, damit also ein in Massen herrschaftlicher Akt, der auf Befolgung zielt. Zum anderen sind Stiftungen bewusst auf einen nachhaltigen, den Stifter selbst ueberdauernden Bestand gerichtet. Hierzu mussten sie, so der Verfasser, als "perpetuum mobile" angelegt werden, das aus eigenen Mitteln auf dem vorgegeben Kurs voran zu schreiten vermochte. Dies erforderte eine innere Ausgestaltung in Form detaillierter Vorgaben. Sie umfassen die finanzielle Ausstattung und Nutzungsverfuegung ebenso wie die personale Konstruktion - soweit es sich wie im vorliegenden Fall zugleich um die Stiftung einer Personengemeinschaft, um ein Stift, handelt. Mit dem stifterlichen Willensakt allein war es hier aber nicht getan. Der Wunsch nach Bestaendigkeit erforderte geradezu eine gewisse Verselbstaendigung des eingerichteten Kollegiums. Dieses Kollegium war zugleich eine Gruppenbildung in prinzipiell genossenschaftlicher Form, der ein Streben nach autonomer Gestaltung ihres Lebensbereiches eigen war. Genau um diesen Zwiespalt von stifterlichem Impuls und stifterlicher Herrschaft einerseits und genossenschaftlich gepraegter Selbstorganisation im Stift andererseits geht es im vorzustellenden Buch.

Drei untersuchungsfaehige Punkte, an denen stifterlicher Herrschaftsanspruch und kollegiale Verselbstaendigungstendenzen aufeinandertreffen, werden benannt.

1. Die Dotation des Stifts, die aber nur Ausgangsstufe ist, da sie notwendigerweise in eine Vermoegensselbstaendigkeit uebergehen muss.
2. Die Stellenbesetzung. Nach dem Kirchenrecht stand dem Stifter als Patronus das Praesentationsrecht zu, waehrend Kennzeichen der genossenschaftlichen Organisation die freie Selbstergaenzung ist.
3. Die Frage, ob die Stiftermemoria als Movens der Stiftung durch eine eigene Gruppenmemoria der Stiftsangehoerigen ergaenzt oder gar ueberlagert wird.

Dieses Drei-Fragen-Modell wird deduktiv auf drei Vergleichsfaelle - Prag, Wien und Heidelberg - angewendet, ein einigermassen synchroner Vergleich also, der von einem gemeinsamen Ausgangspunkt ausgeht und differente Auspraegungen des Phaenomens in den Blick nimmt. Als Quellengrundlage dienen vorrangig die Stiftungsurkunden sowie die Statuten der Stifte und Kollegien als Dokumente der inneren Ausgestaltung. Allerdings wird hier nicht einer plumpen Gleichsetzung von Stiftungsurkunde und Herrschaft bzw. Statuten und genossenschaftlicher Willkuer das Wort geredet, sondern ein dialogisches Herrschaftsverstaendnis zugrunde gelegt, das in den Fixierungen von Rechten und Pflichten jeweils einen Verstaendigungsprozess zwischen den Interessenten sieht. Folglich vermeidet die Leitfrage des Buches auch eine Ueberbetonung des Kontroversen: Nicht Herrschaft oder Genossenschaft lautet sie, vielmehr: wo auf der Skala zwischen beiden Polen kann man Universitaetsstift und Kolleg im jeweiligen Fall verorten?

Die Ergebnisse koennen hier nur gestreift werden. Den Anfang bildet - wie koennte es anders sein - Prag, wo Karl IV. 1366 das Allerheiligenstift umwidmet und als Stiftskapitel mit Professorenchorherren installiert, zudem als Neuheit das Karlskolleg, ein reines Magisterkolleg, in dem die Kollegiaturen eine Art Ersatzkanonikat bilden. Durch Dotation beschert er seiner Gruendung finanzielle Unabhaengigkeit. Waehrend im Collegium Karolinum die freiwerdenden Positionen durch Kooptation besetzt werden, ist das Allerheiligenkapitel in seiner Selbstergaenzung eingeschraenkt. Eine gewisse Zahl an Kanonikaten ist fuer Nachruecker aus dem Karolinum reserviert, das Amt des Propstes an die stifterliche Zustimmung gebunden. Der Wille des Stifters ist in Prag trotz spaeterer Wandlungen in der inneren Ausgestaltung konstitutiv. Er ist Anstossimpuls fuer das Magisterkolleg, waehrend er im Allerheiligenkapitel ueber die Propsteibesetzung als Rechtsanspruch sogar dauerhaft verankert ist. Die Professoren-Chorherren sind von klassischen Pfruendverrichtungen befreit.

In Wien sind die Gewichte anders verteilt. Auch hier entsteht ein Allerheiligenstift (am Stephansdom) und 1384 das Collegium ducale. Wiederum ist ein Teil der Kapitelspfruenden fuer Kollegmitglieder reserviert. Ueberraschen kann das kaum, denn in Wien orientierte man sich wohl explizit an den Prager Verhaeltnissen; zeigt via Prag aber auch Affinitaeten zur Pariser universitas. Neben der schleppend verlaufenden Dotation der Wiener Gruendungen tritt ein wesentlicher Unterschied in der Besetzungsfrage hervor. Trotz des geregelten Nachrueckverfahrens aus dem Kolleg in das Allerheiligenstift bleibt die Praesentation fest in den Haenden der Stifterfamilie. Die konkrete Besetzungspolitik, die oftmals verdiente Personen aus dem Hofdienst beruecksichtigte, zeigt deutlich, dass es sich um ein Universitaets- und zugleich um ein landesfuerstliches Kapitel handelte. Auch die Selbstergaenzung des herzoglichen Kollegs folgte den Vorgaben des Stifterhauses. Dessen Dominanz reichte so weit, dass angesichts des Niedergangs der Universitaet im 16. Jahrhundert Stellen auch gegen die urspruenglichen Stiftungsbestimmungen vergeben wurden. Anders als in Prag tritt in Wien die Frage der Stiftermemoria hervor. Das Stift hatte eine klare liturgische Memorialfunktion fuer den Stifter, und da die Stephanskirche zugleich als Grablege der Professoren diente, traten Stifter- und Gruppengedenken in einen auch raeumlich fassbaren Konnex, wenngleich am Ende die verstorbenen Universitaetslehrer angesichts des repraesentativen Raumbedarfs der Habsburger aus dem Kirchenraum weichen mussten.

In Heidelberg schliesslich war der Stiftermemoria ebenfalls ein zentraler Platz beschieden. Sinnfaellig zeigt dies die Bestattung Koenig Ruprechts in der Heilig-Geist-Kirche, die nun zur Fuerstengrablege wird. Es fehlt allerdings ein einmaliger Gruendungakt. Stattdessen kann man von einer Etappengenese sprechen, in der das Stift sukzessive durch Umwidmungen anderer Stiftungen aus pfalzgraeflichem Besitz dotiert wurde. Das Kollegium verdankt sein Entstehen der Initiative des Konrad von Gelnhausen, die sich die Pfalzgrafen dann zueigen machten. Ganz im klassischen Sinne des Patronatsrechts reservierte Papst Gregor XXII. dem Pfalzgrafen die alleinige Praesentation auf die Klerikerstellen des Heilig-Geist-Kapitels. Ein Nachrueckautomatismus vom Collegium artistarum, spaeter Collegium principis, wie er in Prag und Wien praktiziert wurde, existierte in Heidelberg nicht. Auch die Statutenbildung kann anders als dort kaum als genossenschaftlicher Willkuerakt bezeichnet werden. Dennoch ist der Einfluss der Universitaet auf die innere Ausgestaltung des Stifts bemerkenswert. Aus ihren Reihen kamen nicht nur die Vorschlaege fuer die Kanonikatsbesetzung. Das Stift, das uebrigens nicht den Theologen vorbehalten war, sondern gleichsam die Spitzen der gesamten Universitaet vereinte, erscheint geradezu als organisatorische Buendelung des Betriebs, in der sich Strukturen der Universitaet und des Kanonikerstifts weitgehend deckten.

Die Faelle sind verschieden, doch die Mechanismen erkennbar. Auch die genossenschaftlich konzipierte Universitaet ist in gewissem Masse einem "Ueberherrschungsanspruch" durch den Stifter ausgesetzt, der mit der Stiftung einen weichenstellenden Anfangsimpuls gegeben hat. Dieser Impuls kann durch Statutengesetzgebung stabilisiert, ergaenzt und ausgestaltet werden. Damit tritt der prozesshafte Charakter der Stiftung zutage. Auch im universitaeren Kontext erscheinen Stiftsgruendungen besonders geeignet, weil sie zum einen die Dauerhaftigkeit der Memoria garantieren, zum anderen als Attribut koenigsgleicher Stellung benutzt werden koennen. Diese "Lehrgemeinschaften mit integrierter Stiftergrablege", wie sie hier genannt werden, binden aber zugleich die Universitaeten. Die liturgischen Verpflichtungen der Professoren-Chorherren, die moegliche Einflussnahme der Stifter auf die Finanzen und vor allem auf die Stellenbesetzung der Kanonikate erweisen sich als Angelpunkte, an denen genossenschaftlich Organisationsformen und Fremdeinfluss aufeinandertreffen. Durch Stifte und Kollegien, das zeigen die Fallstudien uebereinstimmend, behielten die Stifter den Fuss in der Tuer der Universitaet, die nach nach Autonomie strebte und sich aeusserem Einfluss zu verschliessen suchte. Auch wenn die Arbeit dezidiert (im Durkheim'schen Sinne) dem Vergleich als dem geisteswissenschaftlichen Pendant zum Experiment verpflichtet ist und ein an den Physikunterricht erinnendes Unterkapitel "Versuchsanordnung" besitzt, waere es irrefuehrend, hier nur den durchdachten Aufbau, die praezise Durchfuehrung des Versuchs und die genaue Ablesung der Ergebnisse zu wuerdigen. Der Weg dorthin ist weiter als auf den ersten Blick erkennbar. Teilweise musste die Quellengrundlage erst erschlossen werden, in jedem Fall aber die Einzelbefunde in die konkrete Geschichte der jeweiligen Institution eingebettet werden. So sind jeweils kleine Universitaets-Fruehgeschichten entstanden, mit konzentriertem Blick auf die leitenden Fragen, aber instruktiv und erhellend auch fuer weitere Zusammenhaenge. Ueber die statische Bestandsaufnahme von Willensfestlegungen und Statuten hinaus wird nie der Blick fuer die Wirklichkeit hinter den normativen Fixierungen verschlossen. Im Gegenteil: Dem Unileben in Prag, Wien und Heidelberg wird Leben eingehaucht. Man lernt die Koepfe kennen, die hinter den Statutenentwuerfen stehen, erfaehrt von Besetzungskontroversen zwischen Nationes und Einzelpersonen oder von "ewigen Sentenziaren", denen an der Promotion nichts lag, weil mit ihr die Befoerderung in eine materiell ungewisse Zukunft drohte.

Als wertvolle Beigabe bietet der Band am Schluss Mitgliederlisten der Kollegien und die Transkription/Edition 24 ungedruckter bzw. entlegen publizierter Quellentexte zur Geschichte der Universitaetsstifte und Kollegien in Wien und Heidelberg. Ein Register der Orts- und Personennamen erleichtert den gezielten Zugriff auf eine Arbeit, die durch methodische Klarheit, Sorgfalt und enorme sprachliche Konzentration ueberzeugt und die im reichen Feld universitaetsgeschichtlicher Forschung nachdruecklich auf die wichtige Perspektive des Stiftungsgedankens und seiner konkreten Umsetzung verweist.

[1] Den Hinweis auf die Herkunft der Abbildung sucht man allerdings vergeblich. Vgl. dazu und zur Konzeption des Instituts die IVGEM-Homepage:

http://www.geschichte.hu-berlin.de/ivgem/index.htm

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:

Harald Müller, Institut f. Geschichtsswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, e-mail: muellerh@geschichte.hu-berlin.de


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Harald Mueller <muellerh@geschichte.hu-berlin.de >
Subject: Rez.: Wagner, Universitaetsstift und Kollegium
Date: 04.05.2001


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