Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Ina Merkel
Das vorliegende Buch offeriert eine Auswahl von Vorträgen, die 1999
auf einer Konferenz in Berlin zum Thema "Biographien und die Teilung Europas"
gehalten wurden. In diesen, in englisch publizierten Texten wird der Versuch
unternommen, die vierzigjährige Spaltung Europas durch den "Eisernen
Vorhang" in ihren Auswirkungen auf Lebensentwürfe und biographische
Verläufe zu untersuchen. Ausgangsthese ist die Annahme, daß die
Teilung den Hintergrund jeglicher Kommunikation zwischen Ost und West auf
entscheidende Weise bestimmt hat. Nun soll herausgefunden werden, wie sich
das auf das Alltagsleben der Menschen ausgewirkt hat, welche biographischen
Wendungen es hervorgerufen hat und welche kulturellen Praxen der
Bewältigung die Individuen ausgebildet haben. Die Untersuchungen bedienen
sich des methodologischen Konzepts der Biographieforschung.
Obwohl es um die Erfahrung der Trennung zwischen Ost und West geht, konzentriert
sich das Buch typischerweise auf Biographien im osteuropäischen Kontext.
Die Herausgeber sind sich dieser Tatsache bewußt und begründen
die einseitige Sichtweise damit, daß die politischen und sozialen
Veränderungen dramatische Auswirkungen eben vor allem (oder sogar nur?)
auf die Menschen in Osteuropa hatten. Die seit 1989 stattfindenden
Transformationsprozesse, die sich in der Regel als Kapitalisierung darstellen,
bestätigen diesen Zugang einmal mehr. Lebensentscheidungen und
Orientierungen finden vor dem Hintergrund der westlichen Gesellschaften statt,
die gewissermaßen als Norm europäischer Entwicklung gesetzt sind.
Sosehr dieser Zugang also seine Berechtigung hat, provoziert er dennoch die
Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, auch einmal westliche Biographien
vor dem Hintergrund osteuropäischer Geschehnisse zu untersuchen. So
sind beispielsweise die 1968er Studentenunruhen, die Aktionen der RAF und
die Gründung einer linksalternativen Partei (Die Grünen) nur vor
dem Hintergrund osteuropäischer Entwicklungen zu begreifen. Auch wenn
sie es vielleicht gar nicht wollen, bestätigen die Organisatoren der
Konferenz mit ihrer Themenwahl einmal mehr die Ungleichgewichtigkeit in der
Betrachtung und damit den Mainstream des politischen Diskurses über
Europa, in dem Osteuropa in der Regel als das "andere Europa" ausgeklammert
wird. Dieser Diskurs geht ja mittlerweile so weit, daß Länder
wie Tschechien oder Polen erst einmal beweisen müssen, daß sie
überhaupt zu Europa gehören.
Abgesehen von diesem grundsätzlichen Problem mit der Ausrichtung des
Themas ist dem Buch jedoch zugute zu halten, daß es sich um eine sehr
differenzierte Herangehensweise bemüht und dezidiert versucht, die Klischees
und Polarisierungen des Kalten Krieges aufzubrechen. Ausgangspunkt ist die
Kritik an den "Images", die über den Osten kursieren und jahrzehntelang
den Blick gerichtet haben. Der Osten Europas, so ließe sich das
sympathische Bestreben der Autoren und Autorinnen zusammenfassen, vereint
in sich eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere und Facetten, die sich
weder unter das Konzept "Sozialismus" noch das der "traditionalen Gesellschaft"
einfach subsumieren lassen, sondern eigenlogische Formen von Entwicklung
darstellen. Methodisches Konzept ist die Biographieforschung, mit deren Hilfe
eine andere Perspektive, um nicht zu sagen der "Blick von unten", auf das
Thema gerichtet wird. Entsprechend den unterschiedlichen Herangehensweisen
und Fragerichtungen gliedert sich das Buch in drei Teile:
1. Annäherung an Europa Theoretische Überlegungen (Approaching
Europe Theoretical Considerations)
2. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart Erfahrungen von Gewalt und
Zerstörung in Krieg, Diktatur und der Shoa (Between Past und Present
Experiences of Violence and Destruction)
3. Herausforderungen beim Überbrücken/Überqueren von Grenzen
(Challenges in the Crossing of Borders)
Im ersten Teil werden theoretische Fragen behandelt, die zum Konzept von
Europa und seiner Teilung in Beziehung stehen. Die Debatte wird von Erhard
Stölting eröffnet, der in seinem Aufsatz: "Der Osten Europas
eine historische Konstruktion" die Entstehung von bestimmten Mustern im
Ost-West-Diskurs seit dem 18. Jahrhundert nachvollzieht. Stölting zeigt
darüber hinaus, wie diese dichotomisierenden Konstruktionen bei der
Herausbildung nationaler Identitäten funktioniert haben, wie sie
schließlich ins Unterbewußtsein abgesunken sind und dort nach
wie vor und weitgehend unreflektiert die Vorstellung eines grundsätzlichen
Gegensatzes von Ost und West speisen. Im Unterschied zu Stölting, der
vor allem die Linie der Teilung verfolgt, stellt Martin Peterson in "Das
Streben nach europäischer Identität" angesichts eines kulturellen
Pluralismus in Europa die Frage, ob es dennoch so etwas wie einen gemeinsamen
kulturellen Rahmen gibt, der es erlaubt, von europäischer Identität
zu sprechen. Seiner Auffassung nach ist es nicht sinnvoll, nach fest
definierbaren Kriterien zu suchen, die das "Europäische" ausmachen.
Europäische Identität sei als eine Art work in progress zu verstehen,
getragen von dem Bemühen aufgeklärter Geister um Pluralität,
Modernität und Aufklärung. Einer solchen Denkweise entspricht das
Konzept der Biographieforschung, in dem davon ausgegangen wird, daß
die Individuen in gegebenen Verhältnissen ihrem Leben eine je eigene
Bedeutung geben.
In diesem Sinne greift Wolfram Fischer-Rosenthal den Faden auf und entwickelt
in seinem Aufsatz "Adresse verloren: Wie kann man das Leben festhalten.
Biographisches Strukturieren in der europäischen Moderne" die Idee,
daß sich Identitäten nicht länger fixieren lassen
weder in geographischer noch in kultureller oder sozialer Hinsicht ,
sondern eine andauernde Praxis sind, mit der die Individuen den ständigen
Wandel in ihrem Leben verarbeiten. Devorah Kalekin-Fishman geht in ihrem
Aufsatz "Blick auf Europa von außen: Geschichten von Ausschließung
und Einschließung" sogar noch einen Schritt weiter und fragt, ob nicht
die biographische Methode selbst dahin tendiert, den permanenten Prozeß
der Individualisierung abzuschließen, statt ihn in seiner Offenheit
zu erfassen und zu beschreiben. Solchermaßen bietet der erste Teil
eine hochaktuelle Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der
Biographieforschung.
Im zweiten und dritten Teil des Buches geht es empirisch zur Sache. Während
sich der zweite Teil mit der Frage beschäftigt, wie die Individuen
Gewalterfahrungen biographisch verarbeiten, befaßt sich der dritte
Teil mit zeitgenössischen kulturellen Praxen des Umgangs mit der Grenze.
In beiden Themenfeldern geht es letztlich darum herauszufinden, inwiefern
die Vergangenheit heute noch präsent ist und sich auf das Leben in der
Gegenwart auswirkt. Die biographischen Erzählungen, so der Ansatz,
unterliegen im Verlaufe der Zeit einem Bedeutungswandel, der zum einen durch
die Generationenfolge in der Familie und zum anderen durch den sich
verändernden öffentlichen Diskurs über Politik und Geschichte
begründet ist.
Victoria Semenova eröffnet die Diskussion mit ihrem Aufsatz "Die Botschaft
der Vergangenheit: Wie die Erfahrung des Leids durch die Generationen vermittelt
wird". Sie geht der Frage nach, was die Erlebnisse der Großeltern in
den 20er und 30er Jahren in Sowjet-Rußland für die Konstruktion
von Lebensgeschichten der heutigen jungen Generation bedeuten. Gabriele Rosenthal
schließt an mit ihrem Aufsatz "Soziale Transformation im Kontext familialer
Erfahrungen: Biographische Konsequenzen verdrängter Vergangenheit in
der Sowjetunion". Sie versucht eine Deutung der Repräsentationen von
Vergangenheit vor dem Hintergrund gegenwärtig durchlebter Erfahrungen
einmal als Auswirkung der Vergangenheit in die Gegenwart und zum anderen
als Rekonstruktion der Vergangenheit aus heutiger Perspektive. Von besonderem
Interesse ist, was in den Erzählungen früher verschwiegen und versteckt
wurde und was davon heute weggelassen wird.
Auch die folgenden Aufsätze befassen sich mit der Frage, wie jahrzehntelang
versteckte oder mit einer bestimmten Bedeutung erzählte Geschichten
(wie die des Holocausts) seit der Öffnung der Grenzen einen Bedeutungswandel
erfahren. Bettina Völter folgt in ihrem Aufsatz "Intergenerationendialog
in Familien jüdischer Kommunisten in Ostdeutschland. Eine
prozeß-orientierte Analyse" der sich wandelnden Perspektive auf die
Vergangenheit und auf die eigene jüdische Identität im Verlaufe
von vierzig Jahren. Was es heißt, nach der Shoa ein Jude zu sein, ist
auch das Thema von Lena Inowlocki "Doing Being Jewish'. Die Konstitution
von Normalität' in displaced jüdischen Familien in Deutschland".
Sie beschreibt den Fall einer jüdischen Mutter, die, in Westdeutschland
lebend, versucht, ein "normales" jüdisches Leben zu leben.
Den Drang, der familialen Vergangenheit zu entfliehen und eine neue Basis
für "Normalität" zu schaffen, beschreiben Júlia Vajda und
Éva Kovács in ihrem Aufsatz "Wie Juden und Nicht-Juden nach
der Übergangsperiode in Ungarn zusammenleben". Sie untersuchen anhand
von vier unterschiedliche Fällen, welche Rolle das Jüdisch-Sein
im Verhältnis der Partner und in den jeweiligen Familien spielt und
wie diese mit dem Vergangenheitstrauma und den Schuldgefühlen umgehen.
Diese Frage stellt sich auf ganz andere Weise auch Mirjana
Morokvasic-Müller in ihrem Aufsatz "Dem Nationalismus und der Gewalt
entrinnen: Interethnische Heiraten in Post-Jugoslawien", wenn sie untersucht,
vor welchen Herausforderungen interethnische Beziehungen nach den kriegerischen
Ereignissen der letzten Jahre stehen. Eine ganze Generation, die als "Jugoslawen"
sozialisiert wurde, ist nun in eine nationale Hysterie verstrickt, aus der
sie sich kaum lösen kann.
Die folgenden Aufsätze befassen sich mit narrativen Strategien in
biographischen und autobiographischen Erzählungen. Kaja Kazmierska zeigt
in ihrem Aufsatz "Polnisch-deutsche Beziehungen in Erzählungen über
die Erfahrungen des II. Weltkriegs von der östlichen Grenzregion", wie
die Kriegserlebnisse einmal in den Mustern kollektiver Erfahrung geschildert
werden (wenn sie mit der Sowjet-Armee zusammenhängen) und zum anderen
in Form biographischer Aktion (wenn sie mit der deutschen Armee
zusammenhängen). Sie deutet diesen Befund als narrative Strategien,
die auf den Vergleich unterschiedlicher Erfahrungen militärischer Gewalt
zielen.
Mihai Dino Gheorghiu beschäftigt sich in seinem Aufsatz "Narrative extremer
Erfahrungen in vier Lebensgeschichten: Mircea Eliade, Mihail Sebstian, Nicolae
Steinhardt, Paul Goma" ebenfalls mit narrativen Strategien, diesmal aber
im öffentlichen Raum. Es geht um die Untersuchung der Wirkung kürzlich
in Rumänien veröffentlichter autobiographischer Texte von
Intellektuellen, die von extremen Leiden während des faschistischen
bzw. stalinistischen Regimes berichten, auf den öffentlichen Diskurs
und die Geschichtsschreibung. Eine ähnliche Frage wirft Zdzislaw
Krasnodebski in seinem Aufsatz "Dilemmata kollektiver und individueller
Erinnerung in Osteuropa: Reflexionen am Beispiel Polen" auf. Er untersucht
den enormen Wandel, den die Deutung der Vergangenheit im öffentlichen
Diskurs erfahren hat. Dabei konzentriert er sich auf die biographischen
Erzählungen der Solidarnost-Generation und zeigt, wie schwierig es ist,
klare Unterscheidungen von Opfern und Tätern zu treffen, insbesondere
wenn man den Wandel der Positionen bedenkt, die durch den Fall des Sozialismus
hervorgerufen wurden.
Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Frage, wie die Menschen
mit der Grenze zwischen den Systemen umgegangen sind und was sie für
ihr Alltagsleben bedeutet hat. Ina Dietzsch thematisiert in ihrem Aufsatz
"Die Konstruktion kultureller Differenz zwischen Ost- und West-Deutschland
anhand von Briefwechseln" das Problem, Nähe und Gemeinsamkeit in
familiären oder Freundschaftsbeziehungen während der politischen
Teilung aufrechtzuerhalten. Die Briefeschreiber bedienen sich dabei zugleich
solcher Strategien, die geeignet sind, Hierarchien analog des politischen
Diskurses zu konstituieren, als auch solcher, die über alle Grenzen
hinweg immer wieder Gemeinsamkeiten herstellen. László Kürti
befaßt sich in seinem Aufsatz "Der sozialistische Zirkus: Geheimnisse,
Lügen und autobiographische Familienerzählungen" ebenfalls mit
den Widersprüchen innerhalb einer Familie, die sich an dem Für
und Wider zur sozialistischen Gesellschaft zerreibt.
Geradezu entgegengesetzt untersucht Vera Sparschuh in ihrem Aufsatz "Die
Biographien der Biographen: Einige Bemerkungen über die Geschichte der
Sozialwissenschaften in der DDR" inwiefern die Konstituierung der sozialistischen
Gesellschaften mit der Herausbildung bestimmter biographischer Muster
verknüpft war. Ingrid Miethe hingegen interessiert sich in ihrem Text
"Wandel des politischen Aktivismus: Ostdeutschland in der Transformation"
für den Bedeutungswandel, den das politische Handeln der besonderen
Gruppe der Dissidenten im Verlaufe der Wende erfahren hat.
Ingrid Oswald und Viktor Voronkov reflektieren in ihrem Aufsatz "Tricky
Hermeneutics. Öffentliche und private Sichtweisen auf jüdische
Migration von Rußland nach Deutschland" das Problem, inwiefern der
biographische Hintergrund der Sozialwissenschaftler Einfluß auf die
Interpretation hat. Für die Muster der Kommunikation über Differenz
interessieren sich Yvonne Schütze und Tamar Rapoport in ihrer Untersuchung
"'Wir sind uns ähnlich in dem, wie wir anders sind': Soziale Beziehungen
junger russisch-jüdischer Immigranten in Israel und in Deutschland".
Roswitha Breckner beschäftigt sich in ihrem abschließenden Aufsatz
mit der "Bedeutung des Eisernen Vorhangs in den Biographien von
Ost-West-Migranten". Sie zeigt anhand von zwei rumänischen Auswanderern
von 1970, daß die Grenze erst mit der Migration zum strukturierenden
Element von Erfahrung wird.
Soweit die Aufsätze in aller gebotenen Kürze, die der Fülle
des empirischen Materials und der anregenden Fragestellungen und Interpretationen
nicht annähernd gerecht werden kann. Ein zweifellos großes Verdienst
der Herausgeberinnen ist es, so viele osteuropäische Wissenschaftler/innen
für die Publikation gewonnen zu haben. Dies eröffnet eine Vielzahl
interessanter Perspektiven auf das Thema, die über bisherige Publikationen
weit hinausgehen. Dem Band ist wegen seiner tiefgehenden
theoretisch-methodologischen Reflexionen, seiner geschichtlichen
Differenziertheit und seiner interessanten Fallstudien ein über den
kleinen Kreis der Osteuropa-Experten hinausgehendes Publikum zu wünschen.
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Merkel, Ina,
<merkeli@mailer.uni-marburg.de>
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Beate Binder <Beate.Binder@rz.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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