Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Stefan Jordan
Die Historischen Sozialwissenschaften befinden sich in einem
Transformationsprozeß, der einerseits durch Veränderungen in der
politischen Landschaft, andererseits durch Herausforderungen ausgelöst
wurde, die von neuen methodisch-theoretischen Prämissen ausgingen. Dass
systematische Bereiche wie etwa Religion oder symbolisches
Handeln gegenüber der starken Betonung von Gesellschaft
und Wirtschaft zu kurz gekommen sind, räumten selbst gestandene
Sozialhistoriker wie Hans-Ulrich Wehler ein. Die Kritik, dass sich mit der
sozialgeschichtlichen Methodik bestimmte historische Sachverhalte nur
unzureichend fassen lassen, ist durch die Erforschung des Epochenjahres
1989 und die Erinnerung an die Geschehnisse von 1968 angestachelt worden.
Die Verdammung des Ereignisses und die Betonung der
Struktur, wie sie am prononciertesten durch Fernand Braudel vertreten
wurde, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.
Dass die Rückkehr des Ereignisses aber keineswegs mit dem
Ende der Sozialgeschichte gleichbedeutend sein muss, ist die Überzeugung
aller 13 Autoren des vorliegenden Bandes. In zwei Kapiteln wird darin versucht,
das Ereignis als Kategorie für die Historischen
Sozialwissenschaften nutzbar zu machen: Zunächst werden
Ereignis-Theorien aus den Nachbarwissenschaften vorgestellt und
auf ihren Nutzen für die Geschichtswissenschaft hinterfragt; dann finden
sich Historische Fallstudien, in denen der Ereignisbegriff im
sozialhistorischen Sinne Verwendung finden soll.
Der niederländische Soziologe Rod Aya stellt eine Sicht vor, in der
der Rational-Choice-Theorie und der Situationslogik eine zentrale Stellung
zukommt. Menschliches Handeln sei immer erfolgsorientiert und werde dann
zur Struktur, wenn es sich wiederhole. Aya charakterisiert damit das
Ereignis als durch innere Rationalität determiniert
eine Position, gegen die alle folgenden Beiträge Front machen. Der
französische Politologe Michel Dobry etwa hebt in seinen Ausführungen
über die Situationslogik gerade die Kontingenz des Ereignisses
hervor. Viel mehr als auf das eigentliche Ereignis käme es darauf an,
Handlungskontexte und Interdependenzkonstellationen zu
umreißen, die es erlauben, typische Situationslogiken zu denken, welche
sich den Wahrnehmungen, Einschätzungen, Vorwegnahmen, Berechnungen und
schließlich den Praktiken und den Aktivitäten vor allem
den taktischen der Ereignisakteure aufgedrängt haben
könnten (S.83). In die zentrale Position seines und auch der folgenden
Ausführungen rückt die Betonung von Handlungsmöglichkeiten
sowie Deutungs- und Erfahrungsweisen, die Ereignisse als punktuelle
Ausprägungen von und Symbole für längere Handlungsketten
bezeichnen.
Drei Theorien erfahren eine nähere Würdigung: die Theorie des
Ereignisses Marshall Sahlins durch William H. Sewell jr., die
Strukturierungstheorie Anthony Giddens durch Thomas Welskopp und das
Modell des kritischen Ereignisses Pierre Bourdieus durch Ingrid
Gilcher-Holthey. Sewell und Gilcher-Holthey schaffen es, die von Ihnen
vorgestellten Theorien an einem historischen Sachverhalt der Landung
James Cooks auf Hawaii bzw. dem Mai 68 in Frankreich zu
veranschaulichen. Sie leiten jedoch aus ihrer Exemplifikation kein allgemeines
historisches Erklärungsmodell ab. Welskopp, der diesen Versuch bei seiner
Erörterung des praxeologischen Ansatzes von Giddens unternimmt, kommt
zu dem Schluß: Giddens Strukturierungs-Ansatz
liefert keine vollständige theoretische Blaupause, die in der empirischen
historischen Arbeit quasi nur noch konstruktiv umzusetzen wäre
(S.117).
Während sich aus den theoretischen Reflexionen keine Möglichkeit
ergibt, wie sich der Ereignisbegriff in eine praktikable Geschichtstheorie
integrieren ließe, weisen die Fallstudien einen Weg zur
Vermittlung mit der Begriffsgeschichte. In den Untersuchungen über den
schweizerischen Bauernkrieg (Andreas Suter), den Vendéekrieg
(Jean-Clément Martin), die Selbstauflösung der Republik von Vichy
(Ivan Ermakoff) und das Erlebnis des Kriegsausbruchs im Westen 1940 (Jakob
Tanner) wird das Kosellecksche Begriffspaar Erfahrungsraum und
Erwartungshorizont als Instrumentarium benutzt, um das
Ereignis als sozialwissenschaftliche Größe auszuweisen:
Aber es ist erst das soziale Handeln und die soziale Praxis der Akteure
selber, welche das, was wir mit Hilfe von sozialgeschichtlichen Methoden
als politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Strukturen beschreiben,
gesellschaftliche Wirklichkeit werden lassen. Akteure eignen sich in ihrem
Handeln oder im Widerstandshandeln das, was wir mit der sozialgeschichtlichen
Analyse als Strukturen ihrer Umwelt oder strukturelle Handlungsbedingungen
beschreiben können, selber und auf ihre Weise an (Suter, S.183).
Es ist wohl kein Zufall, dass kein deutscher, sondern mit Jacques Revel ein
französischer Sozialhistoriker im theoretischen Teil des Bandes auf
die Fruchtbarkeit von Reinhart Kosellecks Theorie der Begriffsgeschichte
als Sozialgeschichte und von Paul Ricurs narrativistischer
Geschichtsphilosophie für die Historischen Sozialwissenschaften aufmerksam
macht. Vielleicht führt die Kritik am Strukturbegriff der Sozialgeschichte
zu einer befruchtenden Kooperation mit der Begriffsgeschichte. Der wiederum
dürfte diese Zusammenarbeit ebenfalls zugute kommen: Das Verdikt
postmoderner Beliebigkeit gründet nicht zuletzt in der starken Betonung
der Fiktionalität des Faktischen nach dem linguistic turn.
Denn hinter den Diskussionen des hier angezeigten, vielfältigen Bandes
stehen in erneuerter Fassung die beiden Fragen nach der agency, also dem
historischen Subjekt sowie nach der Tatsächlichkeit der Geschichte.
Damit erstere nicht als Alternative zwischen historistischer Historiographie
der Einmaligkeit zum einen oder langer Dauer zum anderen verstanden
wird, ist eine Zusammenarbeit beider Richtungen unabdingbar. Ebenso könnte
diese vor einer Fiktionsphobie einerseits und einem naiven
Faktenobjektivismus andererseits schützen, wie er sich z. B. bei den
Herausgebern äußert, die im Vorwort erklären, dass nur
in der Analyse des tatsächlichen Verlaufs Kausalketten erstellt werden
[können], die jeweils die Absichten der Akteure miterfassen (S.
32).
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Stefan Jordan,
<npl@polithist.pg.th-darmstadt.de>
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf <ZiegeldorfV@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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