Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Ihme-Tuchel, Beate
Dieser neun Beiträge umfassende Sammelband ausgewiesener KennerInnen der Materie analysiert die deutsch-polnischen Beziehungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dabei befasst sich etwa die Hälfte der Beiträge mit dem Stand und der Belastbarkeit dieser Beziehungen seit den Umbrüchen des Jahres 1989/90.
Wolf-Dieter Eberwein stellt in Anlehnung an Karl W. Deutsch und Ernst-Otto Czempiel integrationstheoretische Überlegungen zur Tragfähigkeit des vom polnischen Außenminister Krzysztof Skubiszewski im Februar 1990 aus der Taufe gehobenen Begriffs einer deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft an. Dieser anspruchsvollen theoretischen Analyse folgt Dieter Bingens gelungene Darstellung des langen Weges der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland bis 1990, in denen die DDR immer indirekt präsent blieb. Diese Beziehungen setzten nahezu bei Null an; bis 1955 gab es wenig mehr Positives zu berichten als die Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950, die einen Verzicht auf Rache und Vergeltung für das erduldete Leid enthielt.
Auch die folgenden Jahre brachten - trotz gewisser Hoffnungen auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Umfeld des polnischen Oktober von 1956 - keinen Durchbruch in den Beziehungen, die nicht zuletzt durch die Hallstein-Doktrin blockiert blieben. Eine erste Annäherung setzte erst in den sechziger Jahren mit dem Abschluss eines Handelsvertrages, der neuen Ostpolitik sowie dem Briefwechsel zwischen den deutschen und den polnischen Bischöfen ein. Die Entspannungspolitik der siebziger Jahre mit ihrer Anerkennung der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen sowie der Zusicherung, dass beide Seiten gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche hegten, brachte bis 1972 einen ersten Durchbruch in den Beziehungen, die allerdings danach bis zum Amtsantritt Michail Gorbatschows 1985 in eine mehr oder weniger ausgeprägte Stagnation verfielen. Erst seit Mitte der achtziger Jahre konnten Tabuthemen wie das Schicksal der Vertriebenen oder die Existenz einer deutschen Minderheit in Polen thematisiert werden. Ein kurzer Abschnitt ist den Umbrüchen von 1989/90 gewidmet.
Ludwig Mehlhorn wiederum fragt, ob es sich bei den Beziehungen zwischen Polen und der DDR um eine Zwangsfreundschaft gehandelt hat. Unter dieser Fragestellung untersucht er nicht nur die offiziellen, sondern auch die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster in beiden Ländern. Weder für Polen noch für die DDR habe es eine Alternative zur Vasallentreue gegenüber der UdSSR gegeben; zudem habe die westdeutsche Nichtanerkennungspolitik die Volksrepublik Polen in eine Solidarität mit der DDR geradezu gezwungen. Bis zu ihrer Auflösung 1952 hätten auch die Gerlach-Gesellschaft, einige Verlage sowie die 1958 gegründete Initiative Aktion Sühnezeichen sehr viel Positives für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen geleistet.
Basil Kerski untersucht den Anteil der nichtstaatlichen Akteure an der Entwicklung der Beziehungen bis 1990 und hier vor allem die Rolle des kirchlichen Kontaktnetzes (den Briefwechsel der katholischen Bischöfe und die Denkschrift der EKD, die polnischen Klubs der katholischen Intelligenz, den Bensberger Kreis, Aktion Sühnezeichen, Polenseminare und das Anna-Morawska-Seminar) sowie den beachtlichen Einfluss der Exilzeitschrift Kultura für die Herausbildung einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft.
Auch die deutschlandpolitische Diskussion der polnischen Opposition seit
den siebziger Jahren sowie das Verhältnis der Opposition in der DDR
zu Polen werden beleuchtet. Die 1976 entstandene Polnische
Unabhängigkeitsbewegung (PPN) forderte zwar wie die polnische
Staats- und Parteiführung eine uneingeschränkte Anerkennung der
Oder-Neiße-Grenze, konnte aber, anders als diese, in der deutschen
Teilung keine Garantie für die Souveränität Polens erkennen.
Nach Basil Kerski enthielten die Überlegungen der PPN bereits deutliche
Ansätze der erst später postulierten deutsch-polnischen
Schicksals- bzw. Interessengemeinschaft. Zuletzt wird der Versuch
unternommen, die bereits vor 1990 erkennbaren Ansätze einer
Vergesellschaftung der Außenpolitik zu erklären.
Markus Mildenberger bilanziert diese Interessengemeinschaft aus
dem Abstand von zehn Jahren; für die frühen neunziger Jahre konstatiert
er eine Euphorie in den Beziehungen, die jedoch gegen Ende des
Jahrzehnts von neuem Misstrauen abgelöst worden sei.
Er fragt, ob der deutsche Regierungswechsel im Herbst 1998 zu einem Paradigmenwechsel in den Beziehungen geführt habe. Helmut Kohls Wahlniederlage sei von der konservativen polnischen Regierung mit Enttäuschung aufgenommen worden; insbesondere Gerhard Schröders Ankündigung, mehr Realismus und stärker deutsche Interessen in der Europapolitik verfolgen zu wollen, habe im offiziellen Polen Befürchtungen vor einer Abkehr Deutschlands von der proeuropäischen Haltung Kohls sowie seiner schwindenden Sensibilität für das historische Sonderverhältnis zu Polen ausgelöst. Dennoch führt Mildenberger in seinem abgewogenen und mit einer beeindruckenden Literaturliste versehenen Beitrag die nachlassende Euphorie im gegenseitigen Verhältnis nicht nur auf Fehlentwicklungen der jüngsten Vergangenheit zurück. Vielmehr habe die letztlich unverbindliche Harmonie der frühen neunziger Jahre infolge der konkreten EU-Beitrittsverhandlungen Polens verblassen müssen. (S. 132)
Die EU-Osterweiterung und die Gestaltung der Kooperation nach dem Beitritt Polens seien die zentralen Fragen für die deutsch-polnischen Beziehungen, nicht aber die Entschädigung der polnischen Zwangsarbeiter oder die Vertriebenenproblematik. In der polnischen Wahrnehmung ist aus dem deutschen Anwalt für eine EU-Mitgliedschaft Polens inzwischen aber ein deutscher Verzögerer geworden. (S. 141) Es verwundert daher nicht, dass Mildenbergers Urteil über die vielbeschworene Interessengemeinschaft recht zwiespältig ausfällt.
Matthias Ecker-Ehrhardt fragt nach den Interessen, Werten und dem Gemeinschaftssinn in den Beziehungen auf der Ebene der Eliten. Ist das im Freundschaftsvertrag skizzierte Projekt knapp zehn Jahre danach bei den Führungsschichten bereits Realität? So lautete zumindest die Fragestellung der vergleichend angelegten deutsch-polnischen Elitenstudie, die 1998 am Wissenschaftszentrum Berlin und am Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau durchgeführt wurde. Obwohl das Verhältnis beider Länder auf Elitenebene in mancher Hinsicht noch weit vom anvisierten Zustand der Freundschaft entfernt ist (S. 170), könne es auf vielen Gemeinsamkeiten aufbauen.
Anna Niewiadomska-Frielings Beitrag ist den Beziehungen im Urteil der öffentlichen Meinung der neunziger Jahre gewidmet. Dazu befasst sie sich mit dem deutschen Polenbild und dem polnischen Deutschlandbild seit dem 19. Jahrhundert. Niewiadomska-Frieling konstatiert eine dreifache Asymmetrie: so existierten auffallende Divergenzen zwischen den deutschen Eliten mit ihrem positiven Polenbild und dem nach wie vor negativen und von Unkenntnis geprägten Polenbild der deutschen Gesellschaft. Daneben liege eine Diskrepanz zwischen dem negativen deutschen Polenbild und dem sich entscheidend verbessernden polnischen Deutschlandbild vor.
Darüber hinaus existiere eine Asymmetrie bei dem Deutschenbild der jüngeren polnischen Generation, das sich klar vom nationalen Empfinden der älteren Generation in Polen unterscheide. In Anlehnung an Detlef Pollack geht Niewiadomska-Frieling davon aus, dass bei jenen Deutschen, die Kontakte zu Polen haben, die Einstellungen deutlich positiver ausfallen als bei den übrigen, was auch in umgekehrter Richtung gelte. Entgegen dem weit verbreiteten Vorurteil von der antipolnischen Einstellung der Ostdeutschen sei deren Zustimmung für eine polnische EU-Mitgliedschaft größer als die der Westdeutschen. (S. 183f) Niewiadomska-Frieling hält die in Polen unternommenen Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen zum deutschen Nachbarn für größer als die deutschen Anstrengungen in umgekehrter Richtung.
Christoph von Marshall wagt einen Ausblick über den Stand der Beziehungen
aus deutscher Sicht. Als einen Hauptfehler erachtet er, dass die deutschen
Themen in Polen und die polnischen Themen in Deutschland immer noch als eine
von der Außen- und Europapolitik abgekoppelte Funktion populistischer
Innenpolitik wahrgenommen und missbraucht werden. Die meisten Politiker
wagten es nicht, sich entschiedener gegen die Ressentiments ihrer Wähler
zur Wehr zu setzen; zudem sei es viel verlockender, sich diese Ressentiments
zunutze zu machen. (S. 206)
Den Band beschließt ein polnischer Ausblick über den Stand der
Beziehungen von Kazimierz Wóycicki, der vor einer unübersehbaren
Belastung des beiderseitigen Verhältnisses warnt, sollten die
Eigentumsverhältnisse in den ehemals deutschen Gebieten auch nur ansatzweise
angetastet werden. Rückgabeforderungen ehemaliger Eigentümer
dürften nicht den Hauch einer Erfolgswahrscheinlichkeit
besitzen. (S. 213) Auf welchem Niveau werden sich die deutsch-polnischen
Beziehungen mit dem Beitritt Polens zur EU stabilisieren? Gerne würden
hier die deutsch-französischen Beziehungen als beispielgebend
angeführt, möglich sei aber auch der - wesentlich ungünstigere
- Vergleich mit den deutsch-niederländischen Beziehungen.
Dieser Band gibt insgesamt einen hervorragenden Überblick über
die jüngste Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Besonders
positiv ist zudem anzumerken, dass etliche der Texte besonders auch didaktischen
Ansprüchen genügen und daher außerordentlich gut für
den Einsatz in der Lehre geeignet sind.
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Ihme-Tuchel, Beate,
<polhist3@zedat.fu-berlin.de>
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Lemke <lemkem@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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