Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Gregor Hufenreuter
Die völkische Bewegung des wilhelminischen Kaiserreiches gehört mit zu den spektakulärsten und vielschichtigsten Erscheinungen jener Epoche und doch ist sie bislang nur unzureichend oder einseitig erforscht. Zum einem mag das daran liegen, dass sie allein als wegbereitender Vorläufer des Nationalsozialismus abgetan wird, zum anderen an der Schwierigkeit, sie in einem zeitlichen Rahmen zu verorten oder von anderen Strömungen dieser Zeit abzugrenzen. Nicht zuletzt mag auch ihre diffuse und amorphe Gesamterscheinung vor einer tiefergehenden Auseinandersetzung abschrecken. Nicht selten rettete sich somit die Forschung in pauschalen Aussagen vor einem "nur noch mit Hilfe von Spezialhandbüchern" zu überschauenden "Wirrwarr von Sekten, Verbänden und Kleinunternehmen"[1].
Die vorliegende Habilitationsschrift von Uwe Puschner stellt sich diesem Problem und schließt damit eine seit langem klaffende Forschungslücke, widmet der Autor sich doch neben der personellen und organisatorischen Basis vornehmlich den entwicklungsgeschichtlichen und ideologischen, weltanschaulichen Aspekten der völkischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Aufgabe, die die größte Zahl der bisher erschienenen Studien zu einzelnen Organisationen und Personen dieses Spektrums nicht vollauf erfüllen konnten. Neben der zeitlichen Begrenzung auf das wilhelminische Kaiserreich entbindet Uwe Puschner sein Forschungsobjekt zudem vom gängigen Fokus auf den Nationalsozialismus und betrachtet es als eigenständiges Phänomen, das sich auf der Suche nach dem "völkischen Arkadien" (S. 166) alles andere als antimodern gab. Von diesem Standpunkt aus entfächert er kenntnisreich vor dem Leser ein tiefgründiges und detailliertes Bild der hochdifferenzierten und in breite gesellschaftliche Schichten ausgreifende Bewegung.
Die wichtigsten Wurzeln und Impulse der völkischen Bewegung sieht Uwe Puschner in den Schlagworten "Sprache", "Rasse" und "Religion" verankert. Zu jeder dieser drei Stützen völkischer Weltanschauung liefert der Autor eine in sich geschlossene Untersuchung (es greifen jedoch alle drei immer wieder ineinander), wobei die Abhandlung über Rasse am umfangreichsten ausgefallen ist. Neben Schwerpunkten wie "Völkischer Antisemitismus" und "Rassenideologie", finden sich hier auch exotischere Komplexe wie "Die Stadt als Rassengrab" oder die "Rassenseele" und weisen die völkische Rassenideologie als "Generalschlüssel zum Verständnis von völkischer Weltanschauung und Bewegung" aus (S. 16). Der an den Anfang gestellte Komplex zur Sprache gibt hingegen Aufschluss über die Entstehungsgeschichte des Wortes "völkisch" und vermittelt anhand dieser Begriffsgeschichte die Zusammenhänge zwischen verdeutschungswütigen Sprachnationalisten und der sich zusehends etablierenden Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts. Als letztem konstitutivem Element für die Völkischen wendet sich der Autor der Religion zu, wobei er vor allem das breite Spektrum völkischer Religionsentwürfe und -gemeinschaften ungemein detailliert wiedergibt und somit exemplarisch den Hauptgrund für die Inhomogenität der völkischen Bewegung offen legt: "den Führungskampf und Führungsanspruch einzelner" (S. 248).
Als Grundlage für seine Arbeit verwendete Uwe Puschner vierhundert Bücher, Zeitschriften, Broschüren und Flugblätter und präsentiert eine mit großer wissenschaftlicher Genauigkeit und Präzision erarbeitete Überblicksdarstellung, die schnell zum Standardwerk über die völkische Weltanschauung avancieren wird. Dennoch stellt das Buch zumeist keine Organisationsgeschichte völkischer Vereinigungen dar und wartet auch nicht mit biographischen Essays auf, was bei der Fülle von erwähnten Namen in einzelnen Fällen dem Leser die Einordnung und Verortung von Personen oder Organisationen erschweren wird. Hierbei sei jedoch unter andren auf das vor wenigen Jahren ebenfalls von Uwe Puschner mitherausgegebene "Handbuch zur "Völkischen Bewegung" 1871 bis 1918" verwiesen, dass etwaige Lücken zu füllen weiß [2]. Um den Leser jedoch nicht allein zu lassen, veranschaulicht der Autor mittels der kontinuierlich in Erscheinung tretenden völkischen Protagonisten Adolf Reinecke, Theodor Fritsch und Ernst Wachler Lebenswege und ideologische Entwicklungen. Als Besonderheiten seien noch die Tabellen im Anhang erwähnt, anhand derer sich der Leser ein plastisches Bild über die nach Berufen aufgelisteten Mitglieder einiger Organisationen machen kann. Nützlich auch das chronologisch geordnet Verzeichnis, das alle erwähnten Verbände und deren Mitgliederzahlen (soweit feststellbar) enthält.
Es ist das große Verdienst dieser Arbeit, eine umfassende Darstellung zu völkischen Denkmodellen und deren komplexen, in sich verschachtelten Weltanschauung anhand der genannten Schlüsselbegriffe erbracht zu haben. War man bislang oft nur mit isolierten Elementen dieser "Such- und Sammelbewegung" konfrontiert, so ergibt sich nunmehr die Möglichkeit, diese Wesenszüge in einer geschlossenen Gedankenwelt zu erkennen und als Teil eines Ganzen besser zu verstehen.
Anmerkungen:
[1] Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten 1871-1945, Tübingen 1999, S. 89.
[2] Handbuch zur "Völkischen Bewegung" 1871 bis 1918, hrsg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht, München u.a. 1996.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Gregor Hufenreuter, Freie Universität - Berlin, <Hufenreuter@aol.com>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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