Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Herzberg, Guntolf
I.
Ansätze zu einer Geschichte der DDR-Philosophie gibt es mehrere: zwei
parteiamtliche Glanzgeschichten (1979 und 1988), die materialreiche und die
philosophische Produktion jedoch nur von außen betrachtende kritische
Darstellung von Norbert Kapferer (Das Feindbild der
marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945-1988, 1990),
die zahlreichen Einzelstudien zu Personen und Vorgängen sowie die erste
Darstellung des Endes der DDR-Philosophie in meinen beiden Büchern
(Abhängigkeit und Verstrickung, 1996 und Aufbruch
und Abwicklung, 2000). Diesen schließt sich als weiterer
Zwischenschritt der vorliegende Band hervorgegangen aus einer Konferenz
an der Berliner Humboldt-Universität und um mehrere Beiträge
ergänzt mit 19 Aufsätzen von 15 Autoren an, eingegrenzt
auf die Jahre 1945 bis 1958. Die Autoren gehörten zum überwiegenden
Teil zu den DDR-Philosophen und waren in dem behandelten Zeitraum noch
Schüler oder Studenten.
Als Zeitzeuge aus der unmittelbaren Nachkriegszeit präsentierte sich Hans-Joachim Lieber, späterer Rektor der Freien Universität Berlin. Die Lehrer der DDR-Philosophie, die für die Zeit ab 1945 repräsentativ waren und sofern sie noch leben, fehlten dagegen demonstrativ und verweigern sich überhaupt einer kritischen Darstellung ihres Faches.
II.
Der Band gibt keine Geschichte des philosophischen Denkens in der DDR, sondern
geht unter sehr verschiedenen Aspekten an die Anfangsjahre heran:
als persönliche Erinnerungen an die Zeitumstände,
als konzeptioneller Versuch, die Vorgeschichte der DDR-Philosophie begrifflich
und historisch genau zu erfassen (Peter Ruben), oder als Längsschnitt
bestimmter Ereignisse (Hans-Christoph Rauh an Hand einiger Zeitschriften
allerdings in unüberschaubaren und dadurch zumeist
unverständlichen Bandwurmsätzen, Camilla Warnke über die
Hegel-Rezeption in der SBZ/DDR),
als Würdigung der marxistischen Lehrer (Ernst Bloch, Georg Lukács,
Klaus Zweiling, Georg Klaus, Wolfgang Harich),
als Erinnerung an das Wirken bürgerlicher Philosophen in der SBZ/DDR
(Hans-Georg Gadamer, Günther Jacoby, eine Dokumentensammlung zu Hans
Leisegang),
zu bestimmten Stationen von marxistischen Philosophen in der DDR (über
Ernst Bloch in Leipzig, über Walter Hollitscher in Berlin, über
Leo Kofler in Halle),
zu einzelnen philosophischen Disziplinen ( Logik und Naturphilosophie)
sowie weitere Beiträge und ein Dokumentenanhang, zusammengestellt von
H.-C. Rauh.
III.
Die Qualität der einzelnen Aufsätze ist sehr unterschiedlich. Zusammen
ergeben sie einen Eindruck, mit welchen Schwierigkeiten die marxistischen
und die nichtmarxistischen Philosophen zu kämpfen hatten, wie gering
die durchschnittliche Qualifikation der Lehrergeneration war, wie sie trotzdem
auf die damalige Studentengeneration begeisternd gewirkt hat, welche
Abbrüche es schon vor den Krisenjahren 1956-58 gab. Oft wird auch auf
die Hintergründe der sich herausbildenden philosophischen Arbeit
eingegangen: auf die ideologischen Vorgaben aus der Sowjetunion wie von der
SED mit ihren Funktionären und Ideologen der reinen Lehre
(Kurt Hager, Ernst Hoffmann, R.O. Gropp). Wie jedoch ein Philosophiestudium
aussah, welche Literatur zur Verfügung stand (und welche nicht) oder
mit welchen Kompromissen auf geistigem und politischem Gebiet ein philosophischer
Bildungsweg angereichert war, wird man hier nicht suchen dürfen. Doch
es gibt Beispiele, die das Philosophieren unter den rigiden ideologischen
Bedingungen charakterisieren.
Wer heute wissen will, wie die geistige Atmosphäre in jenen Anfangsjahren war, der lese die Ausfälle gegen Hollitscher auf einer gegen ihn vom ZK der SED anberaumten Tagung 1950 in Berlin (S. 443-449) oder die schlimmen Beschimpfungen Koflers durch R. O. Gropp in der Einheit 1950 (S. 464 ff) über die brillanten Vorlesungen Harichs zur Geschichte der Philosophie und die gegen ihn vorgebrachten ideologischen Vorwürfe 1952/53 (also lange vor seiner Verhaftung) die im Anhang (erneut) publizierte Denkschrift von Günther Jacoby Über die gegenwärtige Universitätsphilosophie in der Deutschen Demokratischen Republik (1954/55) die Auseinandersetzungen um Hegel, die die DDR-Philosophie tief spalteten wie das Werk eines Nichtphilosophen zum exemplarischen Lehr- und Musterbuch für DDR-Philosophen hochstilisiert wurde (Lenins Materialismus und Empiriokritizismus).
Als theoretisch anspruchsvolle Bausteine für eine politisch-ideologisch konzipierte oder das innerphilosophische Geschehen umfassende Geschichte der Philosophie in der DDR eignen sich von allen Beiträgen meines Erachtens nur wenige: Wegen ihrer konstitutiven Fragestellungen die Aufsätze von Peter Ruben Von der Philosophie und dem deutschen Kommunismus und Norbert Kapferer >... vom philosophischen Erbe abgetrieben“, wegen der Materialfülle die Aufsätze von Camilla Warnke zur Hegel-Rezeption und zu Harichs Vorlesungen sowie Lothar Kreisers großer Überblick über die Lehre und Lehrinhalte der Logik an den philosophischen Fakultäten 1945 bis 1954.
IV.
Wegen ihrer paradigmatischen Bedeutung soll auf die ersten dieser Aufsätze
genauer eingegangen werden.
Ruben gibt nicht nur eine akzeptable Definition von DDR-Philosophie (die im Gebiet der einstigen SBZ und nachfolgenden DDR unternommenen akademischen Anstrengungen ...., die mit der Errichtung dieses Staats verbundenen politischen und ökonomischen Absichten der deutschen Kommunisten philosophisch zu begründen bzw. zu legitimieren), sondern entwirft in prägnanten Zügen auch deren Genese: die sich über 150 Jahre seit Moses Hess hinziehende Verbindung zwischen modernem Kommunismus und Philosophie. Während Karl Marx 1844 den Konnex von Philosophie und Proletariat herstellte, ist die eigentliche kommunistische Philosophie von Friedrich Engels (Anti-Dühring 1878) geschaffen worden, deren weitere Durchbildung ... eine deutsch-russische Gemeinschaftsbildung gewesen sei, die ganz wesentlich von Georgi Plechanow im heftigsten Konflikt mit Eduard Bernstein begründet worden ist.
Deshalb gibt es auch eine sozialdemokratische und eine kommunistische
Interpretation des Marxismus. Karl Kautsky repräsentierte trotz Lenins
Kritik den Marxismus seiner Zeit doch gehört er nicht zu den
Wurzeln der DDR-Philosophie. Deren Weg geht von Plechanow der 1883
die russische Marx-Rezeption begründete über Lenin und den
Leninismus in die KPD.
Die frühe DDR-Philosophie - das ist die interessante These von Ruben
- ist bereits in der Weimarer Republik und im engsten Kontakt mit dieser
Partei begründet worden, doch deren wichtigste marxistische Theoretiker
August Thalheimer (1884-1948) und Kurt Sauerland (1905-1937) wurden als
Un-Personen nie in die DDR-Philosophie eingelassen. Diese entwic kelte sich
politisch konkurrenzlos - aus Stalins kleiner Schrift Über
dialektischen und historischen Materialismus (1938). Dazu Ruben: Was
immer danach an Lehrbüchern und sonstigen Texten in der DDR verfaßt
worden ist, hat jene 35 Seiten mindestens zur stillen Richtschnur.
Kapferer geht in seinem Beitrag speziell den Bruchstellen im Denken von Lukács und Bloch nach wie also beide bildungsbürgerlichen Philosophen über die Annäherung und produktive Beschäftigung mit der marxistischen Philosophie schließlich seit den dreißiger Jahren immer stärker zu Ideologen und Propagandisten auch des Stalinismus wurden, worunter sichtbar die Qualität ihrer Arbeiten litt und wirft dabei die schlichte Frage auf, die konzeptionell jede Darstellung der Geschichte der DDR-Philosophie beeinflussen wird: Was gehört zum Werk? Am gutuntersuchten (und nach wie vor kontroversen) Beispiel Martin Heideggers stellt er paradigmatisch die Frage, ob politisches Verhalten (politische Reden, Bekenntnisse in Briefen, Zeitungsartikel, Kontakte, Parteizugehörigkeit, Denunziation etc.) dem philosophischen Corpus zugeschlagen werden dürfen oder nicht.
Im Falle Heideggers haben sich sehr divergierende Positionen herausgeschält, deren Spannweite von völliger Trennung der Philosophie von der Politik (bei Arendt, Rorty) bis zur Einheit von Philosophie und Politik (Adorno, Bourdieu, Farias) reicht. Also durchaus kein Scheinproblem. Kapferer geht diesen Denkwegen sorgfältig nach, sein Resultat heißt schon für die dreißiger Jahre, daß Bloch und Lukács als Propagandisten der Partei schrieben und dies keine bloße Nebentätigkeit zu ihrer eigentlichen, sonst rein philosophischen Arbeit war, sondern im Zentrum ihres geistigen Schaffens stand. Dies verfolgt er nun bis in die Zeit ihres Wirkens in der DDR und dürfte dem erneuten kritischen Durchdenken der wohl einflußreichsten marxistischen Philosophen in jenem Staate dienen. Doch die konzeptionelle Frage Was gehört zum Werk sollte für die gesamte DDR-Philosophie gestellt werden. Nicht zuletzt gehörte es zum definierten Selbstverständnis des gesamten Marxismus, die untrennbare Verbindung von Philosophie und Politik und Arbeiterklasse und SED gebetsmühlenartig herunterzuleiern. Die heutige Gegenposition vieler (ehemaliger) Marxisten lautet, dies als zeitbedingte Akkomodierung auszuklammern, womit natürlich ein Großteil der philosophischen Produktion sich erledigt hätte. Doch bei einer wissenschaftlich seriösen Darstellung der Geschichte der Philosophie in der DDR wird man sich belehrt durch die Fälle Heidegger, Lukács, Bloch - dieser Frage in voller Schärfe stellen müssen.
V.
Das Buch zeigt und das ist nicht erstaunlich unterschiedliche
politische Sichtweisen und philosophische Wertungen. Da gehen persönliche
Erinnerungen an die eigene Entwicklung und heutige Beurteilungen der radikal
veränderten akademischen Landschaft ein, etwa wenn
die fünfziger Jahre die Hoch-Zeit des Stalinismus in der Philosophie
und den Gesellschaftswissenschaften - insgesamt als diskussionsfreudig und
positiv gesehen werden (Heinz Liebscher) oder die persönliche Vorbildwirkung
der Lehrer auch ihr philosophisches Ouevre jener Jahre aufwertet. Dazu
gehört auch, daß Reinhard Mocek eine Erfolgsgeschichte der
marxistischen Naturphilosophie zu schreiben versucht, die nicht überzeugt
und Ergebnisse behauptet, ohne sie zeigen zu können. Wie man eine
philosophische Disziplin, die in dem abgesteckten Zeitraum nicht gerade zu
den Stärken der DDR-Philosophen gehörte, historisch genau und kritisch
behandeln kann, zeigt Kreiser mit seinem Logik-Beitrag.
Es fällt auf, daß alle Autoren sich sehr in der Würdigung
der einst hochgepriesenen Klassiker Marx, Engels, Lenin zurückhalten,
umgekehrt fällt aus dem Rahmen allein H.-C. Rauh mit seinen
überkompensierenden peinlichen Wortschöpfungen wie
stasifaschistoid, stalin-faschistoid oder den
Kennzeichnungen
materialistisch->widerspiegelungstheoretisch
Was durch diesen Band aus der Vergessenheit herausgehoben wurde und dadurch
zu weiteren Bausteinen einer künftigen Gesamtdarstellung werden sollte,
sind neben den bereits genannten Vorlesungen Harichs zur Geschichte der
Philosophie (von C. Warnke bereits aus ihren Mitschriften auf CD festgehalten)
das durch P. Ruben vorgestellte Riesenmanuskript von Zweilings Vorlesungen
Der marxistische philosophische Materialismus (1955-58) und die
von Hubert Laitko erwähnten, inzwischen auch in Marburg 1991 erschienenen
Vorlesungen Hollitschers zur Dialektik der Natur (1949-50).
Der Anhang bringt auf knapp 50 Seiten einige interessante Dokumente: darunter
einen Fragebogen der Sowjetischen Militäradministration von 1948 für
die Philosophielehrkräfte in Ostdeutschland über deren Verhältnis
zum Materialismus und zu ihren wichtigsten philosophischen Auffassungen (hier
mit den Antworten von Hans Leisegang), die Studienpläne für das
Fach Philosophie 1951 und 1956, schließlich die (immer berühmter
werdende) Denkschrift von Günther Jacoby zur Universitätsphilosophie.
VI.
Ein Vorschlag zum Abschluß: Sollte einmal eine umfassende Geschichte
der Philosophie in der DDR zu schreiben beabsichtigt sein, so sollte dies
nicht mehr im konzeptionellen Rahmen des Teilstaates DDR geschehen, sondern
wäre in Übereinstimmung mit heutigen historiographischen Konzepten
in einem gesamtdeutschen Philosophiegebäude zu realisieren.
Literaturverzeichnis:
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Dieser Band schließt einige wesentliche Lücken unserer bisherigen
Kenntnis. Die wirklichen Lehrer und die wirklichen Behinderer der marxistischen
Philosophie werden klar genannt es empfiehlt sich als geistige
Entspannungsübung ein Vergleich dieses Buches mit der eingangs genannten
parteiamtlichen Darstellung desselben Zeitraumes von 1979. Was in diesem
Band eindeutig zu kurz kommt, ist die genaue Darstellung der großen
Auseinandersetzungen um eine erneuerte Philosophie in der kurzen Zeit 1956/57.
Eines der wichtigsten Ereignisse auf dem Gebiet der Philosophie die
Freiheitskonferenz vom Mai 1956 kommt generell nur am
Rande vor. Bei der Ehrenschuld, die durch die Aufnahme der bürgerlichen
Philosophen in der SBZ/DDR in diesen Band abgeleistet wird (mehr ist es noch
nicht), hat man auf jeden Fall Rudolf Schottländer vergessen. Genauer
sollten auch - über die hier vorliegenden meist dürren Daten hinaus
die Karrieren der DDR-Philosophen untersucht werden.
Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR. Von
1945 bis Anfang der sechziger Jahre. Hg. von der Akademie für
Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1979
Philosophie für eine neue Welt. Zur Geschichte der
marxistisch-leninistischen Philosophie. Hg. von der Akademie der
Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED unter Leitung von V. Wrona, Berlin
1988
Kapferer, N.: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in
der DDR 1945-1988, Darmstadt 1990
Herzberg, G.: Abhängigkeit und Verstrickung. Studien zur DDR-Philosophie,
Berlin1996
-: Aufbruch und Abwicklung. Neue Studien zur Philosophie in der DDR, Berlin
2000
Herzberg, Guntolf,
<meador@operamail.com>
Michael Lemke <lemkem@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
From: Guntolf Herzberg
Date: 05.12.2001
Subject: Anfänge der DDR-Philosophie