Pavel Polian: Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im "Dritten Reich" und ihre Repatriierung, (= Kriegsfolgenforschung, Band 2), Muenchen/Wien: R. Oldenbourg Verlag 2001, 223 S., ISBN: 3-486-56535-4; 223 S., Preis: DM 48,-

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Ulrike Goeken-Haidl

"An der Unabwendbarkeit des Todes zweifelte offensichtlich niemand, weder die 'Genossen' noch die 'Repatrianten' und nicht einmal die 'Gentlemen' selbst. Einer der an der Aktion beteiligten Briten berichtete später Nikolaj Tolstoj in einem Brief von nicht enden wollenden nächtlichen Schüssen, die man vom anderen Ufer herüberhörte, 'zusammen mit dem schönsten Männergesang, den ich je gehört habe'". (Anm. 341) Diesen dramatischen Höhepunkt entnimmt Pavel Polian dem umstrittenen Buch "Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte" von Nikolaj Tolstoj [1], der die Auslieferung von rund 1.600 Kosakenoffizieren an der britisch-sowjetischen Demarkationslinie in Judenburg/Österreich am 29. Mai 1945 durch britische Truppen schildert. Die Akteure waren, so Polian, die 'Genossen' (das sowjetische "Empfangskomitee"), die 'Repatrianten' (in diesem Fall sowjetische Staatsbürger mit kosakischer Nationalität) sowie die 'Gentlemen' (die britischen Truppen, die für die Auslieferung abgestellt worden waren).

Später wurden der Roten Armee weitere 30.000 Kosaken übergeben, von denen viele in Freiwilligenverbänden der Wehrmacht gekämpft hatten. Die vertragliche Grundlage für die Auslieferung der von der Sowjetunion als ihre Staatsbürger deklarierten Menschen war das Abkommen von Jalta vom 11. 02.1945. Das Abkommen sah die Überstellung der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter (von den Westalliierten als "soviet D.Ps" bezeichnet) in die Hand der Roten Armee vor.

Im Gegenzug dazu verpflichtete sich die sowjetische Seite zur Repatriierung der in ihrem Einflußbereich befreiten ehemaligen westalliierten Kriegsgefangenen.

Ob die Ausgelieferten gleich den sicheren und deshalb mit schicksalsergebenen Gesängen begleiteten Exekutionstod fanden, ist bislang ungeklärt, auch wenn Tolstoj einen Augenzeugen fand und Polian diese Szene wie eine Reihe anderer Passagen Tolstojs verwendet.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Übersetzung des 1996 in Moskau erschienenen Buches "Zertvy dvuch diktatur: Ostarbajtery i voennoplennye v Tret'em Rejche i ich repatriacija" - "Opfer zweier Diktaturen: Ostarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Repatriierung" (Moskau 1996), welches zunächst mit dem prägnanten Titel: "Die Heimat wartet auf Euch, Ihr Schurken!" angekündigt worden war. Bislang waren zum Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen nach ihrer Übergabe in den sowjetischen Machtbereich einige wenige Aufsätze in deutscher Sprache erschienen.[2] Nun legt Polian erste Forschungsergebnisse in einem größeren Umfang vor.

In seiner Einleitung nennt er die Klassiker wie Christian Streit, Ulrich Herbert, Wolfgang Jacobmeyer, Gerald Reitlinger, Mark Elliott und Malcom Proudfoot, die in den 60er-80er Jahren dafür sorgten, daß das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener bzw. NS-Zwangsarbeiter als Forschungsthema wahrgenommen wurde. Die englischsprachigen Titel bleiben in seinen Ausführungen komplett ungenutzt. Die Forschungslandschaft in der Sowjetunion bzw. in Rußland war bis 1990 aus politischen Gründen schmal geblieben. Für die Zeit der "Perestrojka" stützt sich Polian in erster Linie auf die Arbeiten von V. Zemskov und A. Sevjakov; als einziger Autor der westlichen Hemisphäre wird Stefan Karner angeführt, der mit seiner Monographie über den Archipel GUPVI die administrative Form des sowjetischen Kriegsgefangenenwesens wesentlich erhellte. [3]

Die deutsch- und russischsprachigen Publikationen spielen in der Darstellung Polians eine gewichtige Rolle, denn er verwendet von den in seiner Einleitung angeführten, nunmehr zugänglichen Beständen in Moskauer Archiven in seinem Text faktisch nur ein limitiertes Repertoire.

Der erste Teil des Buches befaßt sich mit Status und Gesamtzahl der sowjetischen Kriegsgefangenen im Dritten Reich, der zweite, der "eigentliche Kern", will das "breite Spektrum an Schicksalen ehemaliger Betroffener" entfalten: die "Vorbereitungen zu den Rückführungen 1944/45, ihre reale Umsetzung 1944-1952 sowie die Filtration der Repatrianten und die Reintegration der Heimkehrer in die Sowjetgesellschaft" (S. 17). Zunächst wird die quantitative Dimension des Themas umrissen. Polian gelangt auf der Grundlage einer OKW-Statistik sowie eigener, unverständlich erscheinender Berechnungen zu einer Zahl von 2,1 Millionen überlebenden , sich bei Kriegsende auf dem Territorium des "Dritten Reiches" befindlichen sowjetischen Kriegsgefangenen. Sowjetische und amerikanische Quellen und neue Interpretationen dieses Materials dokumentieren einen weitaus niedrigeren Befund. Zudem wird in seiner Statistik unzulässigerweise mit der Zahl der erst später Repatriierten operiert. Ebenfalls verwirrend sind seine Berechnungen zur Gesamtzahl der sowjetischen Zivilarbeiter. Unverständlich bleibt der von ihm eingeführte Begriff eines "Überlebensindex", zu dessen Bestimmung "eine Kombination von deutschem und sowjetischem Datenmaterial herangezogen" wurde (S. 47), und nicht nachvollziehbar die gegen deutsche Zahlen (z.B. des Generalquartiermeister) erhobene Kritik.

Die Fundstellen der relevanten Direktiven und Befehle der mit der Repatriierung befaßten sowjetischen Organe werden von Polian bis auf zwei Ausnahmen (Anm. 224, 250) generell nicht genannt. Ähnlich der Befund bei der zitierten Korrespondenz: In den meisten Fällen bleiben Adressat und Verfasser sowie Datum und Thema unerwähnt.

Das folgende Kapitel beleucht die Vorplanungen der Westalliierten im Angesicht der europaweit zu erwartenden 11 Mio. Displaced Persons. Dem Quellennachweis zufolge hat Polian in den National Archives in Washington diverse Aktenbestände eingesehen. Vor diesem Hintergrund erstaunen zentrale Aussagen des Autors über die Politik der Westalliierten. Die von ihm eingesehenen Quellen lassen nicht den Schluß zu, daß die westalliierten Oberkommandierenden die "abscheuliche und menschenverachtende Politik ihrer Außenministerien sabotierten" (S. 116). Vielmehr waren einer schrittweisen Rücknahme der Politik von Jalta lange und sorgfältig geführte Entscheidungsfindungsprozesse im State und War Department vorausgegangen. Was dann die weitere Politik prägte, war keineswegs eine Gängelungstaktik der westalliierten Truppen gegenüber den sowjetischen Repatriierungsoffizieren (S. 135 f.), eine Konzentration der "gegen die Repatriierung gerichteten Bemühungen der Amerikaner" (S. 137- Welche Besatzungsmacht würde freiwillig den Aufenthalt von einer Million Menschen organisieren und finanzieren wollen?), sondern ein zweckrationales Vorgehen der Besatzungstruppen im Angesicht von Massenselbstmorden sowjetischer Rückkehrunwilliger und zahlreicher tätlicher Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Offizieren und D.Ps in den westalliierten Displaced Persons-Lagern. Ferner scheint es unwahrscheinlich, daß die USA ukrainische Mitglieder der "1. SS-Division Galizien" als Geheimdienstagenten anwerben und als Berater im Kalten Krieg verwenden wollten und deshalb deren Emigration auf den amerikanischen Kontinent betrieben (S.103, S.112). Es bedarf zur Untermauerung dieser Thesen einschlägiger Nachweise, die Polian nicht erbringt.

Das "Werden und Wirken der sowjetischen Repatriierungsorgane", so die Überschrift des folgenden Kapitels, erklärt er mit Überlegungen der sowjetischen Staatsführung, aus Arbeitskräftemangel die ausnahmslose Rückkehr der im Ausland befindlichen Bürger durchzusetzen ("... nach Hause mit ihnen, in die sozialistische Heimat, zum kommunistischen Arbeitseinsatz !(S. 50)) und die "Geburt einer neuen, dem Sowjetregime feindlich gesinnten Nachkriegsemigration unter keinen Umständen zuzulassen, nachdem gewissermaßen deren "Zeugung" nicht hatte verhindert werden können" (S. 50). Waren ökonomische Nützlichkeitserwägungen des Staates in Verschränkung mit einer sowjetspezifischen Verschwörungsparanoia ursächlich für die Installierung des Repatriierungsapparates in ganz Europa? Hier bricht die Erörterung der Kernfrage der vorliegenden Untersuchung bedauerlicherweise ab. Warum die Sowjetunion mit einer derartigen Vehemenz auf die Rückkehr sämtlicher im Ausland befindlichen, von ihr als "Staatsbürger" deklarierten Personen bestand und was mit ihnen geschah, nachdem sie den "Eisernen Vorhang" durchschritten hatten, wird nur in Ansätzen analysiert. Der Weg der Repatrianten zurück in die Heimat und die Zeit ihrer Resozialisierung wird auf knapp dreißig Seiten des Buches ausgebreitet. Dabei schöpft Polian nur sehr beschränkt aus den in der Einleitung dargelegten Aktenfunden, sondern bezieht sich in erster Linie auf die von ihm "durchgeführte Umfrage unter Repatrianten in Rußland" (S. 169). In der Einleitung ist erwähnt, daß von 207 verschickten Fragebögen 103 ausgefüllt zurückkamen - das scheint für die daraus abgeleitete Interpretation eine zu dünne Quellenbasis zu sein. Aus der subjektiven Färbung der Briefe ist auch erklärlich, warum Polian zu dem Schluß kommt, daß "das Überprüfungsverfahren derartig unauffällig und einfach war, daß es gar nicht als Filtration erkannt wurde" (Anm. 620). Das Verfahren der "Filtration" - der erkennungs- und geheimdienstlichen "Bearbeitung" von Staatsbürgern, die in Gefangenschaft eines Kombattanten geraten waren - und die daraus abgeleiteten Isolations-Maßnahmen entstammen einer für das sowjetische Herrschaftssystem konstitutiven Praxis und entschieden über das weitere Schicksal der "Filtrierten". In diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, daß der Autor über die Kategorisierung der Repatrianten so rasch und ohne Hinzuziehung des reichlich vorhandenen normativen Materials hinweggeht.

Zahlreiche zentrale Aussagen bleiben ohne Nachweis, wie z.B. auch ein Bericht, der gewissermaßen über den schlechtesten Ausgang der Überprüfungsmaßnahmen, die Exekution der Betroffenen, berichtet. Daß ein Teil der 1943 in Nordafrika aufgefundenen sowjetischen Kriegsgefangenen "freilich nicht mehr zum Arbeitseinsatz kam", weil "nach den Listen, die man während der Transporte erstellt" hatte "immer wieder Exekutionen" stattfanden (S. 93), wird nicht belegt.

Die zentrale Frage der Repatriierungsthematik ist zweifelsohne, ob die Repatriierung den Beginn einer neue Repressionswelle bildete. Polian versteht unter Repressionen v.a. die Lagerhaft des sogenannten "Spezialkontingents", zu dem bereits während des Krieges diejenigen sowjetischen Militärangehörigen gezählt wurden, denen es gelungen war, aus einer Kriegsgefangenschaft oder Kesselsituation zu entkommen. Nun wurden darunter kriegsgefangene Offiziere und andere "kompromittierte" Personen - darunter wahrscheinlich auch tatsächliche Kollaborateure - subsumiert. Bis zum 11. Juli 1945 durchliefen mehr als 800.000 Militärangehörige und einige Zehntausend Zivilpersonen die für dieses Kontingent gegründeten "Speziallager". Eine Gesamtzahl von 1,3 bis 1,5 Millionen Insassen, die diese Lager zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Verweildauer durchliefen, dürfte realistisch sein. Polian hingegen nennt eine Gesamtzahl von knapp 273.000 Häftlingen (S. 172). Diese Zahl ist irreführend, weil sie nicht den "Durchlauf" der Lager berücksichtigt, sondern auf die Belegzahl vom 01.03.46 abstellt. Auch andere "heimkehrverzögernde" Maßnahmen wie der Arbeitseinsatz für die Demontage deutscher Fabriken und in Arbeitsbataillonen und die Wiedereingliederung in die Rote Armee führt Polian an. Er wertet diese Formen des Arbeitskräfteeinsatzes nicht als Repressionen, obgleich z.B. der Demontage der deutschen Fabriken die jahrelange Montage derselben in der Sowjetunion unter Zwangsbedingungen folgte. Die männlichen Zivilarbeiter, die in Deutschland das Mobilisierungsalter erreicht hatten, wurden auch gerne in Strafbataillonen verwendet, und die Arbeitsbataillone wurden zumeist unter Lagerbedingungen zu solchen Arbeiten eingesetzt, die unter der sowjetischen Bevölkerung am unbeliebtesten waren. Das sollte nicht unerwähnt bleiben. Das Fazit des Autors läßt den Leser deshalb ratlos zurück: "In der Frage, ob 6,5 % - das ist der Anteil der dem Spezialkontingent zugeteilten Heimkehrer - viel oder wenig ist oder ob der Umstand, dem Arbeitsbataillon des Verteidigungsministeriums zugewiesen worden zu sein, ein Geschenk des Himmels war, ist nicht so einfach zu beantworten. Leider - oder bedauerlicherweise - sind bislang noch keine Kriterien für ein glückliches Repatriantenschicksal formuliert worden (S. 208).

Vielmehr: Allein bei einer Addition der von Polian angeführten Kategorien gelangt man zu einer Gesamtzahl von 2,03 Millionen Menschen, die erst nach 1946 zurückkehrten. Legt man die wohl wesentlich realistischeren Zahlen für das Spezialkontingent zugrunde und addiert diejenigen von den Amerikanern oder Briten befreiten Repatrianten hinzu, die 1946/47 im Zuge des Kampfes gegen "westliche Einflüsse" an ihrem Heimatort verhaftet worden waren, kommt man auf 3,35 Millionen, die allein aufgrund der Tatsache, daß sie als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter in Westeuropa gewesen waren, verschiedene Isolations- und Strafmaßnahmen in Kauf nehmen mußten. Insgesamt 5 Mio. waren zurückgekehrt. Nur 33 % blieben unbehelligt. Dieser Befund scheint eigentlich keine Fragen offenzulassen.

Darüber hinaus weist das Buch leider auch Mängel handwerklicher Art auf; es ist mit zahlreichen Rechtschreibfehlern (v.a. in den Literaturangaben) erschienen; auch die Bilder sind nicht immer richtig zugeordnet. (Auf Bild 3 sucht man den Leiter der sowjetischen Repatriierungsbehörde, Generaloberst Golikov, vergeblich).

Insgesamt gesehen bleibt es das Verdienst von Pavel Polian, die Repatriierung von Sowjetbürgern erstmals umfassend beleuchtet zu haben. Doch wo Licht hinfällt, fallen bekannterweise auch die einen oder anderen Schatten hinein.

Anmerkungen:

[1] Nikolaj Tolstoj: Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte, Frankfurt/M., 1987

[2] Ulrike Goeken-Haidl: Repatriierung in den Terror? Die Rückkehr der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in ihre Heimat, 1944-1956, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hrsg.): Dachauer Hefte, 16 (2000); dies., Von der Kooperation zur Konfrontation. Die sowjetischen Repatriierungsoffiziere in den westlichen Besatzungszonen, in: Klaus-Dieter Mueller (Hrsg.): Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941-1956, Köln/Wien 1998

[3] Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956, Wien-München 1995

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:

Ulrike Goeken-Haidl, <goeken@uni-freiburg.de>, Universitaet Freiburg


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Ulrike Goeken-Haidl" <goeken@uni-freiburg.de>
Subject: Rez. ZG: P. Polian: Deportiert nach Hause...
Date: 29.04.2001


Copyright (c) 2001 by H-SOZ-U-KULT (H-NET), all rights reserved. This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and the list. For other permission, please contact H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU.