Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Erichsen, Ulrike
Die Kritik an der Plakataktion, mit der der Förderkreis um Lea Rosh
Spenden für das geplante Holocaust-Mahnmal einwerben wollte, macht deutlich,
daß das Thema Geschichtslügen nur mit größter
Differenziertheit behandelt werden sollte. Selbst eine gutgemeinte, ironische
Funktionalisierung bestimmter Formulierungen ist problematisch, wenn die
gesellschaftliche Öffentlichkeit, die angesprochen werden soll, sich
in der Bewertung des historischen Sachverhalts keineswegs einig ist. Ein
solcher Dissens und ein emotionalisiertes Diskussionsklima sind nahezu ideale
Voraussetzungen für den Erfolg von Geschichtslügen.
Das Problem der Geschichtslüge wird im allgemeinen
politisch-gesellschaftlichen Diskurs vor allem auf den Kontext der
nationalsozialistischen Vergangenheit bezogen; davon zeugen Begriffe wie
Reichstagsbrand-Legende, Auschwitz-Lüge sowie die Angriffe, die im
Zusammenhang mit der Wehrmachts-Ausstellung gegen das Hamburger Institut
für Sozialforschung geführt wurden. In diesem emotional aufgeladenen
Diskussionszusammenhang werden immer wieder Vorwürfe erhoben, die vom
kommunikativen Beschweigen und der individuellen
Lebenslüge über unterschiedlichste Spielarten ideologischer
Propaganda bis hin zur bewußten Verfälschung von Fakten reichen.
Daß jedoch das Problem der Geschichtslüge keineswegs
ausschließlich ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ist, zeigen Tillmann
Bendikowski, Arnd Hoffmann und Diethard Sawicki mit ihrem Band
Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der
Vergangenheit.
Der nach einer kurzen Einleitung an den Anfang gestellte Text von Arnd Hoffmann,
Klios doppeltes Herz. Zur Bedeutung von Lüge und
Fälschung in der Geschichtswissenschaft soll in seinem Versuch
einer historisch-systematischen Herleitung und Begründung der verschiedenen
Verwendungsweisen des Terminus Geschichtslügen eine
Klammerfunktion erfüllen: er muß die begrifflichen Grundlagen
schaffen und die in Thema, Intention und Vorgehensweise sehr unterschiedlichen
Einzelbeispiele zusammenhalten. Dies gelingt nur bedingt.
Im Anschluß an die Untersuchung von drei Beispielen für
Geschichtslügen, die von einer Auseinandersetzung mit Heribert Illigs
These vom erfundenen Mittelalter über die Funktionalisierung
protestantischer Geschichtslügen im konfessionellen Konflikt
am Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zu einer Analyse der Bundestagsdebatte
zur umstrittenen Wehrmachts-Ausstellung am 13. März 1997 reichen,
enthält der Band noch ein Interview mit Professor Hans Mommsen. Das
Interview liefert interessante Facetten zum Thema; der Zusammenhang mit den
vorausgehenden Texten ist jedoch eher lose. Zum Schluß gibt
Geschichtslügen einige Hinweise auf eine Auswahl von
Lügen-Büchern (147-153), wobei auch die hier
ausgewählten Texte vor allem die Bandbreite der Beschäftigung mit
dem Thema deutlich werden lassen; darüber hinaus bleiben die Kriterien
der Auswahl für die Aufnahme in die kommentierte Kurzbibliographie eher
im Dunklen.
Der Klappentext verspricht eine Auseinandersetzung mit der Metapher der
Geschichtslüge: Aus unterschiedlichen Perspektiven
versuchen die Autoren, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, um die
politische, soziale und wissenschaftliche Bedeutung solcher Lügen und
Fälschungen zu entschlüsseln. Diesem sehr ambitionierten
Anspruch vermag das Buch mit seinem moderaten Umfang von gut 150 Seiten nicht
gerecht zu werden. Was es tatsächlich leistet, formulieren die Autoren
in ihrer Einleitung wie folgt: Insgesamt zeigen die verschiedenen
Beiträge dieses Buches dass sich im Übergang von Geschichtswissenschaft
und lebensweltlicher Beschäftigung mit der Vergangenheit ein weites
Feld der Uneindeutigkeit, Ungewißheit und Unübersichtlichkeit
eröffnet, auf dem heftige Auseinandersetzungen um Lügen und
Fälschungen stattfinden (11). Solche Uneindeutigkeit und
Ungewißheit kennzeichnet jedoch nicht nur den Untersuchungsgegenstand,
sondern in mancher Hinsicht auch das Buch selbst: die angesteuerte Zielgruppe
bleibt vage, die Auswahl der Beispiele erscheint nicht zwingend, der Zusammenhang
der unterschiedlichen Teile des Buches wird nicht recht erkennbar. Zwar gelingt
es den Autoren, die Bedeutung des Themas deutlich zu machen, aber ein
systematisches Ausleuchten der Bedeutung von Geschichtslügen für
Wissenschaft und Gesellschaft, wie es der Klappentext nahelegt, ist in diesem
Format vermutlich schlicht nicht zu leisten.
Geschichtslügen, d.h. lügenhafte oder verfälschende Darstellungen
historischer Ereigniszusammenhänge, sind zunächst ein Problem für
die Historiographie als Fachdisziplin; sie haben aber oft ungeahnte Auswirkungen
auf die Urteilsbildung der Allgemeinheit. Beklagt wird in diesem Zusammenhang,
daß die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft in der allgemeinen
gesellschaftlichen Diskussion über historische Sachverhalte weitgehend
ignoriert werden. Hans Mommsen kritisiert dieses Phänomen als
Resultat einer generellen Enthistorisierung der deutschen Gesellschaft
im Vergleich zu westeuropäischen Gesellschaften und des unglaublich
niedrigen Sozialprestiges, das hierzulande Historiker haben (140).
Lügen und Legenden halten sich im allgemeinen gesellschaftshistorischen
Diskurs auch dann noch hartnäckig, wenn sie von der Fachwissenschaft
längst widerlegt worden sind. Diese Diskrepanz mag in vielen Fällen
unproblematisch sein: ob Luther wirklich wörtlich Hier stehe ich,
ich kann nicht anders gesagt hat oder ob dieser Satz nur eine besonders
einprägsame Zusammenfassung der Situation in Worms ist, kann vielleicht
noch als ein untergeordnetes Problem gelten. Es ist zu vermuten, daß
bestimmte Anekdoten oder Formulierungen unabhängig von ihrem historischen
Wahrheitsgehalt aufgrund ihrer Prägnanz und Anschaulichkeit im allgemeinen
gesellschaftlichen Bewußtsein eine gewisse narrative Beharrlichkeit
entfalten. In anderen Fällen, die in die Gegenwart hineinreichen und
so oft zum Gegenstand von Geschichtspolitik werden - die kontrovers
diskutierte Wehrmachts-Ausstellung oder auch die Diskussion um das geplante
Holocaust-Mahnmal in Berlin wären hier als Beispiel zu nennen -, kommt
es jedoch tatsächlich auf den genauen Wortlaut der damit in Verbindung
stehenden Texte an.
Eine Funktion der Geschichtswissenschaft als Fachdisziplin ist die
Aufklärung von Geschichtslügen. Dies setzt voraus, daß es
gültige Kriterien gibt, um zwischen Fälschung oder Lüge und
Wahrheit zu unterscheiden. Tillmann Bendikowski verweist auf die Notwendigkeit
einer Grenzziehung zwischen der Geschichtswissenschaft und einer
Gedächtnisforschung, die Erinnerungskulturen als Teil des kollektiven
Gedächtnisses untersucht. In einer Erinnerungskultur ist der Vorwurf
der Lüge oder Fälschung nur schwer zu erheben, da Erinnerungen
per se subjektiv und unvollständig sind. In seiner Untersuchung zur
Bundestagsdebatte über die Wehrmachtsausstellung zeigt Bendikowski,
wie sich die Frage nach der Geschichtslüge im Verlauf der Diskussion
geradezu verflüchtigt, indem die Redebeiträge von der Geschichte
zur Erinnerung übergingen (125). Für Historiker, die sich
weiterhin mit dem Problem von Geschichtslügen befassen wollen, bleibt
das Festhalten an einem Begriff von historischer Wahrheit, und sei es als
heuristische Fiktion, jedoch unumgänglich.
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Erichsen, Ulrike ,
<npl@polithist.pg.th-darmstadt.de>
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf <ZiegeldorfV@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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