Dietmar Willoweit (Hg.): Die Begründung des Rechts als historisches Problem, unter Mitarbeit von Elisabeth Mueller-Luckner (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 45), München, Oldenbourg 2000. VIII + 345 S. ISBN 3-486-56482-X. DM 108.-

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Thomas Ertl

Der Glaube an die Legitimitaet des geltenden Rechts ist Voraussetzung fuer den Bestand einer politischen Gesellschaftsordnung. Jede Lebens- und Herrschaftsform besitzt ihre eigenen Legitimationsstrategien von Recht. Die Begruendung von Recht beruehrt daher nicht nur die rechtlichen, sondern auch die politisch-sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft. In diesem Sinn weisen die Beitraege, Ergebnisse eines Kolloquiums unter der Leitung des Herausgebers, weit ueber die Spezialdisziplin der Rechtswissenschaft hinaus.

Stefan Breuer, Das Legitimitaetskonzept Max Webers, 1-18: Webers Konzept analysiert die empirischen Beziehungen zwischen Legitimitaetsanspruechen und Legitimitaetsglauben sowie den daraus hervorgehenden Organisationsformen. Breuer meint bei Weber zwei unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs Legitimitaetsglauben zu erkennen. Einerseits seien damit die allgemeinen Geltungsgruende einer legitimen Ordnung (Tradition, affektueller bzw. wertrationaler Glaube, Satzung) gemeint. Auf der Ebene der legitimen Herrschaft trete der Legitimitaetsglaube andererseits zu den genannten Geltungsgruenden hinzu, beziehe sich "auf spezielle, von den Herrschenden vorgetragene Rechtsgruende, Gruende ihrer Legitimitaet" (7) und enthalte die allgemeinen Geltungsgruende in unterschiedlicher Kombination. Daneben entwickelt Breuer Gedanken ueber die erfolgreiche Umsetzung von Legitimitaetsanspruechen und erkennt, dass Webers These von der Korrespondenz zwischen Legitimitaetsform einer Herrschaft und ihrer Organisationsform nur begrenzte Gueltigkeit besitzt.

Okko Behrends, Die Gewohnheit des Rechts und das Gewohnheitsrecht. Die geistigen Grundlagen des klassischen roemischen Rechts mit einem vergleichenden Blick auf die Gewohnheitsrechtslehre der Historischen Rechtsschule und der Gegenwart, 19-136: Die Historische Rechtsschule (Savigny, Puchta) verlegte die Entstehung positiven Rechts in den "Volksgeist". Gleichsam dem Geist des roemischen Populus verdankt die klassisch-roemische Rechtswissenschaft ihren Ursprung. In einem umfangreichen Beitrag falsifiziert Behrends diese Auffassung und weist nach einer allzu ausfuehrlichen Behandlung der Grundbegriffe (consuetudo, ius gentium, mos maiorum, aequitas) auf die bereits in der philosophischen Rhetorik im ersten vorchristlichen Jahrhundert vorhandene Erklaerung hin, dass die Menschen durch den Uebertritt von einem Natur- in einen Gesellschaftszustand die Gewalt durch das Recht ersetzt haetten.

Juergen Weitzel, Der Grund des Rechts in Gewohnheit und Herkommen, 137-152: Der Titel fuehrt in die Irre, denn nach Weitzel kann die Rechtswissenschaft die rechtsbegruendende Wirkung von Gewohnheit und Herkommen nicht erklaeren. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Versuch, die Begriffe Recht (ius), nichtschriftliche Rechtsgewohnheit (consuetudo) und Schriftrecht (lex) voneinander abzugrenzen. Dabei unterscheidet Weitzel die roemisch-kanonische consuetudo-Tradition von einem unreflektierten Verstaendnis von Rechtsgewohnheit in der profanen Welt. Die Kanonisten machten das schriftliche Gesetz zum Fundament ihrer Rechtssystematik und sahen in der nichtschriftlichen Gewohnheit eine gesetzesgleiche, aber subsidiaere Einrichtung. In der spaetmittelalterlichen profanen Welt haette man - so Weitzel - mit dem Begriff Rechtsgewohnheit, deren Abgrenzung von ius bis ins 11. Jahrhundert strittig ist (Pleonasmen?), in der Regel neues Recht bezeichnet. Das entspraeche "der ergaenzenden Rolle, die der gewohnheitlichen Rechtsbildung ansonsten gegenueber dem schriftlichen Gesetzesrecht zukam" (150).

Gerhard Dilcher, Der mittelalterliche Kaisergedanke als Rechtslegitimation, 153-170: Dilcher fuehrt Gedanken eines aelteren Aufsatzes durch eine veraenderte Schwerpunktsetzung weiter [1]. Die Transponierung einzelner Gesetze der staufischen Kaiser in die gelehrten Rechtsbuecher fuehrt seit dem 12. Jahrhundert zu einer Universalisierung des Kaiserrechts. Diesem Streben nach Ueberwindung partikularer Rechtskreise folgten seit dem 13. Jahrhundert Rechtsquellen verschiedensten Ursprungs, indem sie sich als Kaiserrecht legitimierten (Land- und Lehensrechtsbuecher, Landfriedensrecht, reichsstaedtisches Recht, Goldene Bulle). Erst der "Kaisergedanke erlaubte die Universalisierung und Uebertragung von verschriftlichtem Recht, das urspruenglich in einem partikularrechtlichen Kontext entstanden ist" (169).

Juergen Miethke, Die Frage der Legitimitaet rechtlicher Normierung in der politischen Theorie des 14. Jahrhunderts, 171-202: Anhand der Gedanken von vier Autoren ueber die hoechste Kompetenz in der Christenheit zeigt Miethke, dass erstmals am Beginn des 14. Jahrhunderts die Frage nach Rechtslegitimitaet innerhalb der politischen Theorie behandelt wurde. Aegidius Romanus konstruiert eine paepstliche Weltherrschaft, der jeder als der gottgesetzten Obrigkeit untertan sein muss. Johannes Quidort sieht in kirchlicher und weltlicher Macht zwei unabhaengige Gewalten, die durch ein wechselseitiges Verteidigungsrecht verbunden sind. Marsilius von Padua umfasst die menschlichen Sozialstrukturen auf Grundlage der aristotelischen Politik in einem einheitlichen Schema. Die Gesamtheit der Buerger verfuegt seiner Ansicht nach ueber die Gesetzgebungsgewalt, deren Legitimitaet damit an eine Prozedur der Erlassung gebunden wird. Wilhelm von Ockham sieht im Naturrecht die Rahmenbedingungen, die menschliche Gesetze fuellen sollen. Die meisten positiven Gesetze sind allerdings temporaere Loesungen zur Aufrechterhaltung der menschlichen Ordnung. Miethke interpretiert die vier Versuche, rechtliche Normsetzung zu legitimieren, nicht als Zeichen eines gradlinigen Fortschritts, erkennt aber eine zunehmende Differenzierung.

Peter Landau, Der biblische Suendenfall und die Legitimitaet des Rechts, 203-214: Landau fragt nach dem Zusammenhang von lex und peccatum und beruft sich v. a. auf eine Arbeit von W. Stuerner [2]. Doxographisch mustert er die Gedanken von Philosophen und Juristen vom Fruehmittelalter bis ins 19. Jahrhundert und stellt dabei fest, dass selbst die kirchlichen Denker der nach dem Suendenfall notwendig gewordenen, positiven Rechtsordnung eine gewisse Form von Legitimitaet zusprachen. Fuer die Dekretisten des Hochmittelalters gewann das menschliche Recht trotz des suendhaften Ursprungs durch dauerhaften Gebrauch Legitimitaet. Damit war ein Weg zwischen einem radikalen Positivismus und einer Naturrechtslehre gefunden, der die Legitimitaet des positiven Rechts an einen Qualitaetsmassstab oder an prozedurale Voraussetzungen band. Anknuepfend an Gedanken Puchtas sieht Landau im Suendenfallmodell die moegliche Grundlage fuer einen Ansatz, der die Aufgabe des Rechts in der Anwendung des Prinzips der Gleichheit und Freiheit sieht, die Verwirklichung der Rechtsprinzipien als unvollkommen und gefaehrdet betrachtet und daher weder utopisch noch evolutionistisch ist.

Kurt Seelmann, Theologische Wurzeln des saekularen Naturrechts. Das Beispiel Salamanca, 215-228: Seelmann sieht in der iberischen Spaetscholastik, insbesondere in der "Schule von Salamanca" im 16. Jahrhundert ein wichtiges Moment in der Entwicklung zu einem saekularen Naturrecht. Fuer ihre naturrechtlichen Ueberlegungen bedienten sich die spanischen Juristen auf sehr freie Weise traditioneller Argumentationsmuster der Theologie. Der praktisch-historische Hintergrund spielte dabei allerdings eine wesentliche Rolle. "Die 'Saekularisierung' des Naturrechts erweist sich so als ungemein komplexer Prozess, den man ebenso gut unter dem Aspekt der Theologisierung des Rechts erfassen koennte" (227).

Dietmar Willoweit, Der Usus modernus oder die geschichtliche Begruendung des Rechts. Zur rechtstheoretischen Bedeutung des Methodenwandels im spaeten 17. Jahrhundert, 229-268: Der Begriff Usus modernus bezeichnet Veraenderungen der Rechtswissenschaft im 17. Jahrhundert, die zu einer staerkeren Einbeziehung der Partikularrechte fuehrten. Willoweit vertritt die These, dass die Bedeutungsverminderung des bis dahin allein gelehrten roemischen Rechts "auf einem neuen Verstaendnis fuer das Problem der Rechtsgeltung" beruhe, "in dem sich der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts ankuendigt". (231). Den Beleg dafuer sieht Willoweit in den Versuchen, geltungsbegruendende oder -aufhebende Akte oder Vorgaenge fuer einzelne Gesetze und Gewohnheiten nachzuweisen. Mit Hilfe einer historisierenden Methode wurde von den fruehneuzeitlichen Juristen die Einfuehrung des roemischen Rechts durch Kaiser Lothar III. widerlegt und nachgewiesen, dass die germanische Gesetzgebung niemals ausser Kraft gesetzt worden war.

Hasso Hoffmann, Das Recht des Rechts und das Recht der Herrschaft, 247-269: Hoffmann behandelt das Spannungsverhaeltnis von justizieller und politisch-legislativer Rechtsbegruendung. Obwohl die fehlende demokratische Legitimierung zu verfassungsrechtlichen Bedenken fuehren kann, gesetzesueberschreitendes Richterrecht als Rechtsquelle anzuerkennen, wird die richterliche Rechtsfortbildung, die auf der "von den Gesetzen und Institutionen der Gemeinschaft vorausgesetzten ... politischen Moral" basiert (257, Zitat nach R. Dworkins), allgemein akzeptiert. Verbindlichkeit und Grenzen sind allerdings nicht unumstritten. Die Begruendung von Richterrecht aus "Recht, d. h. aus dem Sinnganzen der Rechtsordnung gemaess einer weit zurueckreichenden 'nicht-etatistischen Rechtsquellenauffassung'" (267) interpretiert in den Augen Hoffmanns das Recht nicht nur als willentlich-positiven Akt, sondern als eine Gesamtheit von Grundsaetzen und Standards.

Wolfgang Kersting, Neukantianische Rechtsbegruendung, 269-313: Kersting beschreibt die rechtsphilosophische Diskussion um 1900, die vom Neukantianismus, insbesondere der Marburger Schule um Cohen und Natorp, gepraegt wurde. Die Reduktion der Philosophie auf die reine Logik wissenschaftlicher Erkenntnisse fuehrte zur Uebertragung der logizistischen Deutung in die Rechtsphilosophie und zu dem Versuch einer wissenschaflichen Grundlegung des Rechts. Auf der Grundlage der Arbeit "Ethik des reinen Willens" von Cohen behandelt Kersting die Beziehungen zwischen Cohen und den Rechtsphilosophen Stammler und Kelsen.

Dietmar Willoweit, Rechtsbegruendung und Rechtsbegriff. Ein Nachwort 315-323: Der Herausgeber reflektiert ueber den Rechtsbegriff und ueber Gemeinsamkeiten der verschiedenen Versuche der Rechtslegitimierung. In der Tradition Stammlers grenzt er Recht von Konvention durch den Geltungsanspruch sowie von der Willkuer durch die Selbstbindung ab. Vorstaatliche Wurzeln des Rechts will er in der Rechtsbegruendung durch Einigung und Setzung erkennen, die auf gewissen Grundvoraussetzungen wie Vertragsdauer und Genugtuung basierten. Konvergierende Tendenzen aller Modelle der Rechtsbegruendung sieht Willoweit in der Tatsache, dass unterschiedliche Kombination weniger Kategorien (sakrale Autoritaet, Wille des Volkes und rechtmaessiges Herkommen) in allen Legitimierungsversuchen wiederkehrten.

Der durch einen Diskussionsbericht sowie ein Sach-, Quellenregister und Personenregister abgeschlossene Sammelband hat das selbstgesteckte Ziel, "die Legitimierung von Recht in ihren geschichtlichen Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen nachzuvollziehen" (Willoweit im Vorwort, S. VII), facettenreich und mit vielen neuen Einsichten erreicht. Die einheitliche Ausrichtung der einzelnen Beitraege, durchbrochen lediglich durch den ersten Aufsatz, hebt sich wohltuend von den haeufig heterogenen Produkten der Sammelband-Landschaft ab. Mit einem leisen Bedauern schliesst der Allgemeinhistoriker dennoch dieses anregende Buch: Alle Fragen nach der Wahrnehmung von Rechtsordnungen und ihrer Legitimitaet ausserhalb des Gelehrtenstandes liess die streng juristisch-rechtsphilosophische Perspektive ausser Betracht.

[1] Ders., Kaiserrecht. Universalitaet und Partikularitaet in den Rechtsordnungen des Mittelalters, in: Rivista internazionale di Diritto Comune 5 (1994) 211-245.

[2] Wolfgang Stuerner, Peccatum und potestas. Der Suendenfall und die Entstehung der herrscherlischen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beitraege zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 11), Sigmaringen 1987.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:

Dr. Thomas Ertl, Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, <ertl@zedat.fu-berlin.de>


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Subject: Rezension Willoweit
Date: 15.06.2001


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