Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Achrainer, Martin
Nach seiner Dissertation über den "Geschlossenen Arbeitseinsatz deutscher
Juden" [1] hat Wolf Gruner nun auch eine fast ebenso umfangreiche
ergänzende Studie über die Zwangsarbeit der
österreichischen Juden vorgelegt.
Mit beiden Arbeiten hat Gruner ein bisher unerforschtes Thema behandelt,
wobei er kaum auf kompakte Aktenbestände zurückgreifen konnte,
sondern aus unzähligen Archivbeständen einzelner Behörden
Bruchstücke zu einem Mosaik formen mußte. Die im Anhang gedruckten
Listen (S. 310-314) weisen 29 Arbeitslager und zwei SS-Lager in Österreich
auf, in denen zum Teil allerdings nur eine Handvoll Personen eingesetzt waren,
und immerhin 18 Lager im "Altreich", in die österreichische Juden und
Jüdinnen verschickt wurden. Weitere 16 Umschulungslager der Kultusgemeinde
dienten zunehmend dem Arbeitseinsatz und nicht der beruflichen Ausbildung.
In der Gliederung folgt Gruner einer peniblen Periodisierung: Kapitel I
umfaßt die Zeit vom "Anschluß" Österreichs im März
1938 bis zum Oktober, die "Reichskristallnacht" definiert die erste Zäsur;
Kapitel II November 1938 bis August 1939 wird vom Kriegsbeginn
beendet. Kapitel III reicht bis zu den ersten Deportationen im März
1940; Kapitel IV bis Ende des Jahres 1940; Kapitel V beginnt mit der
Wiederaufnahme der Deportationen und umfaßt das Jahr 1941, Kapitel
VI das Jahr 1942, in dem die Deportationen aus Wien abgeschlossen wurden.
Kapitel VII widmet sich dem Arbeitseinsatz der Juden in "Mischehen" und der
"jüdischen Mischlinge", die nicht deportiert worden waren. Einzelne
Zwangsarbeitslager werden in zehn Exkursen beschrieben.
Innerhalb der einzelnen Kapitel geht Gruner jeweils auf die Judenverfolgung
im allgemeinen und auf jene in Wien im besonderen ein; die Entwicklung der
Zwangsarbeit selbst steht dabei in einem Spannungsverhältnis zunächst
zur Politik der Vertreibung, dann zu den Deportationen.
In der Entwicklung zur Zwangsarbeit für Juden berücksichtigt Gruner
das lang tradierte Vorurteil des "arbeitsscheuen Juden", das jenen zahlreichen
Übergriffen nach dem "Anschluß" zugrundelag, die sich durch die
bekannten Bilder von den "Reibe-Partien" im kollektiven Gedächtnis erhalten
haben. Sehr bald waren diese Demütigungsaktionen auch von ökonomischem
Nutzen begleitet.
In einer bisher wohl kaum bekannten Aktion wurden Ende Mai 1938 "asoziale
und kriminelle Juden" verhaftet und in das KZ Dachau eingeliefert; diese
von Hitler angeordnete Aktion wurde dann von Heydrich mit der sogenannten
"Aktion Arbeitsscheu Reich" im Juni quasi zusammengelegt. Gruner weist nach,
daß Juden reichsweit besonders stark, mit etwa 20 %, unter den Verhafteten
repräsentiert waren. Die Zahl der verhafteten österreichischen
Juden betrug rund 1800.
In seinem ersten Exkurs bespricht Gruner ein sogenanntes "Umschulungslager"
und stellt den Übergang von der (für die Emigration bedeutenden)
Berufsumschulung zur ökonomischen Ausbeutung fest: "[...] vielmehr nutzten
örtliche NSDAP, Firmen und Privatpersonen das unbezahlte Engagement
der Fluchtwilligen für Arbeiten, die die Gemeinde verschönerten
bzw. als Sozialmaßnahme für 'arische' Einwohner und Arbeiter dienten."
(S. 44).
Zur Entwicklung des organisierten Arbeitszwanges waren aber andere Faktoren
maßgeblich: die generelle Separierung der jüdischen Bevölkerung,
die es ihr immer schwerer machte, auf dem freien Arbeitsmarkt Arbeit zu erhalten;
der steigende Bedarf am Arbeitsmarkt, und die Belastung der Fürsorge
durch die in die Armut getriebene jüdische Bevölkerung. So entstanden
in der Arbeitsverwaltung sehr bald Pläne, für Juden "Kolonnenarbeit"
zu finden die Separierung war unbedingte Voraussetzung , um
sie aus der Fürsorge nehmen zu können. In Wien spielte auch die
Wohnraumbeschaffung eine besondere Rolle: Die Verpflichtung einer großen
Zahl von Juden zur Zwangsarbeit war mit ihrer Unterbringung in Arbeitslager
verknüpft; auf diese Weise gedachte die Stadt Wien sich ihrer
jüdischen Bevölkerung zu entledigen. Gruner referiert solche
Pläne und die Debatten zwischen allen beteiligten Behörden relativ
ausführlich, eines aber wird bald klar: Davon betroffen war zunächst
nur ein kleiner Bruchteil der österreichischen Juden.
Als einschneidende Zäsur betrachtet Gruner die "Reichskristallnacht",
die eine "fundamentale Neuorientierung der 'Judenverfolgung'" (S. 69) nach
sich zog. Ein umfassendes Konzept Heydrichs wurde zur Grundlage der Judenpolitik:
die Verknüpfung der Vertreibung nach dem "Wiener Vorbild" mit der
völligen Isolierung der verbleibenden Juden in allen Lebensbereichen.
In einem Erlaß der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und
Arbeitslosenversicherung vom 20. Dezember 1938 wurde dann der "Arbeitseinsatz
erwerbsloser Juden in geschlossenen Kolonnen" geregelt, allerdings sah dieser
Erlaß keine Zwangsmittel vor. Die österreichischen Arbeitsämter
hatten offensichtlich Schwierigkeiten sowohl mit der Rekrutierung als auch
mit der Unterbringung: So wurden österreichische Juden vor allem zu
Arbeitseinsätzen in das "Altreich" vermittelt.
Auch nach Kriegsbeginn unterblieb eine vielfach erwartete Regelung zum
umfassenden Arbeitszwang für Juden; erst im Frühjahr 1940, nach
der Verschiebung der geplanten Deportationen, begannen die Arbeitsämter
reichsweit, alle arbeitsfähigen Juden zu erfassen. Eine Legalisierung
aller seit Jahren durchgeführten Maßnahmen per Verordnung erfolgte
im Herbst 1941, "ausgerechnet kurz vor den [...] Massendeportationen" (S.
255). Hier hätte sich Gruner in der Interpretation durchaus weiter vorwagen
können; mir erscheint dies typisch für die Konstruktion der
NS-Herrschaft: Konkurrierende Behörden treiben Verfolgungsmaßnahmen
voran, eine Regelung erfolgt immer erst im Nachhinein. [2]
In der Darstellung dominieren die Jahre 1938 bis 1940; danach war zwar der
Anteil der Zwangsarbeiter unter der jüdischen Bevölkerung am
höchsten, die Politik aber bereits von den Deportationen bestimmt, die
in Wien Ende 1942 praktisch abgeschlossen waren. Das letzte Kapitel betrifft
daher auch nur mehr die verbliebenen Juden in "Mischehen" und "jüdische
Mischlinge". Im Vergleich zum "Altreich" fällt besonders auf, daß
in Österreich Juden kaum in der Rüstungsindustrie eingesetzt waren,
sondern vor allem zu Erdarbeiten, zum Straßen- und Kraftwerksbau,
herangezogen wurden.
Wie der Titel "Zwangsarbeit und Verfolgung" während in der
vorangegangenen Studie die "Zwangsarbeit als Element der Verfolgung" besser
beschrieben wurde nahelegt, versucht Gruner die Verfolgung der
österreichischen Juden insgesamt darzustellen. Er stützt sich dabei
vor allem auf Quellen der Wiener Kultusgemeinde, die auch die Hauptgrundlage
der kürzlich veröffentlichten Dissertation Doron Rabinovicis über
die Wiener Kultusgemeinde bzw. den Ältestenrat bilden [3]. Rabinovicis
Darstellung ist nicht nur ausführlicher, sondern auch stilistisch
ansprechender; sein Buch ist als Ergänzung zum besprochenen Band dringend
zu empfehlen. In Randbereichen scheint Gruner manchmal etwas unsicher zu
sein; als Beispiel sei der Rückblick auf die Tradition des Stereotyps
vom "faulen Juden" genannt: Als Belege dienen ein Artikel aus dem "Boten
aus dem Waldviertel" von 1884 und eine Broschüre für Lehrer aus
dem Stürmer-Verlag (1937/38); und dann die Erkenntnis: "Die NS-Propaganda
blieb nicht ohne Wirkung. Schon in den ersten Tagen nach dem 'Anschluß'
wurden, diesem Vorurteil folgend, Juden zu 'Arbeiten' gezwungen" (S. 27,
es folgen einige Beispiele). Hier wäre es wohl sinnvoller gewesen, die
Tradition des österreichischen Antisemitismus (z. B. die
Antisemitenbünde der Nachkriegszeit) kurz anzuschneiden als "die
NS-Propaganda" zu bemühen.
In vielen Abschnitten des Buches, in denen es um die fortschreitende Separation
der österreichischen Juden von der "arischen" Bevölkerung, den
Entzug von Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, die Zusammendrängung
in immer weniger Wohnungen und "Judenhäuser", die Beschränkung
der Lebensmittelversorgung und viele weitere Schikanen geht, wird allerdings
recht deutlich veranschaulicht, wie sehr lokale und regionale Bürokratien
die ständige Erweiterung der Judenverfolgung vorangetrieben haben.
Die Entscheidung, Österreich aus der Dissertation auszuklammern (S. 19), erwies sich wohl nicht nur aus arbeitstechnischen Gründen als klug, sondern macht die unterschiedliche Entwicklung zwischen dem Altreich und Österreich besonders anschaulich, ohne diese Frage überzubewerten. Häufig sind Formulierungen wie die folgende zu lesen: "Der zentralen Politik im Altreich vorauseilend [...]" (S. 36). Die vor allem in Zusammenhang mit den "Arisierungen", aber auch mit der zwangsweisen Vertreibung diskutierte Frage nach einem das NS-Regime dynamisierenden und damit die Verfolgungspraktiken beschleunigenden Effekt des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich stellt sich immer öfter, und bei Gruner auch in Zusammenhang mit der Zwangsarbeit der Juden. Gruner neigt hier zu keinen voreiligen Interpretationen, bietet aber einige Ansätze die umfassende Trennung der Juden von der "arischen" Bevölkerung, die Überlegungen zum umfassenden Arbeitszwang, das Verbot für Juden, ihren Wohnort zu verlassen, all dies war in Wien lange vor dem "Altreich" Praxis.
Wie Wolf Gruner in der Einleitung bemerkt, hatte er keine Gelegenheit, "nach weiteren Quellen in anderen österreichischen Regionalarchiven zu forschen. Dort wären zusätzliche Informationen über einige Lager zu vermuten, die das hier präsentierte Bild abrunden, doch ihm wohl kaum inhaltlich widersprechen würden." (S. 16). So ist es, und einige Informationen über ein zusätzliches Lager können hier nachgetragen werden. Aus mehreren Aussagen in Opferfürsorgeakten ist bekannt, daß ein bei Gruner auch in "Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden" nicht erwähntes Zwangsarbeitslager in Rositz, einem Dorf im Kreis Altenburg im östlichsten Teil Thüringens, bestand, das üblicherweise als "Zwangsarbeitslager Rositz", gelegentlich auch als "Zwangsarbeitslager Schelditz" bezeichnet wurde. Den Zeugenaussagen zufolge waren dort rund 500 Häftlinge, darunter 24 (oder 21) Tiroler und Vorarlberger, zwei Salzburger und drei Wiener, eingesetzt wurden sie zu "schwerster körperlicher Aufräumungsarbeit in einem Erdölmineralwerk". Das Lager unterstand offiziell der Organisation Todt, "Einsatzgruppe IV in Weimar" und wurde von Gestapo, holländischer SS und älterem Wachpersonal beaufsichtigt. Die österreichischen Häftlinge waren soweit bisher bekannt ohne Ausnahme "Mischlinge ersten Grades" und wurden am 19. Oktober 1944 von einem provisorischen Sammellager in Wörgl aus von der Innsbrucker Gestapo nach Thüringen gebracht und der Weimarer Gestapo übergeben. In Rositz hatten sie zunächst das Lager aufzubauen. Es bestand demnach ab ca. Ende Oktober 1944 bis zum 13. April 1945, als die Häftlinge mit dem Ziel Flossenbürg in Marsch gesetzt, bereits am nächsten Tag von alliierten Truppen befreit und in Gössnitz kaserniert wurden. Sie bekamen vom Bürgermeister der Stadt Gössnitz einen (gedruckten!) Entlassungsschein. Das Lager Rositz wurde übrigens im Gegensatz zu vielen anderen, wie dem SS-Lager Doppl (S. 298 f.) als Haftstätte im Sinn des Opferfürsorgegesetzes anerkannt.
Wolf Gruners Buch ist für die Geschichte der Verfolgung der Juden in Österreich ein wichtiger, völlig neuer und unverzichtbarer Beitrag. Im Vergleich zu seiner "deutschen" Studie wirkt es etwas sperriger, weniger kompakt, was wohl daher rührt, daß Gruner die gesamte Vielfalt der Verfolgungsmaßnahmen miteinbezogen hat und die Zwangsarbeit als sein eigentliches Thema weniger stringent darstellen konnte; auch eine sorgfältigere Schlußkorrektur hätte nicht geschadet. Besonders gut gelungen, auch von der Lesbarkeit her, sind die Exkurse über einzelne Arbeitslager, in denen auch Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen.
[1] Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur
Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938 1943 (Reihe Dokumente,
Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen
Universität Berlin; Bd. 20), Berlin (Metropol) 1997.
[2] Diese Interpretation folgt dem "Doppelstaat"-Modell Ernst Fraenkels,
der die Konkurrenz zwischen "Normenstaat" und "Maßnahmenstaat" betont.
Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat (Studien zur Gesellschaftstheorie)
Frankfurt/Main-Köln 1974.
[3] Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum
Judenrat, Frankfurt am Main (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag) 2000
(zugleich Dissertation Wien 2000).
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Achrainer , Martin,
<Martin.Achrainer@uibk.ac.at>
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf <ZiegeldorfV@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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