Debatte um die Reform des Hochschulrahmengesetzes

Cornelia Rauh-Kühne: Brief an Bundespräsident Johannes Rau

Die Anregung von Kollegen aufgreifend, habe ich folgenden persoenlich gehaltenen Brief an das Bundespraesidialamt, Spreeweg 1, 10557 Berlin, gesandt. Da das Bulmahn-Gesetz erst in Kraft treten kann, wenn der Bundespraesident es unterzeichnet hat, da Johannes Rau im übrigen die Bildungspolitik neuerdings zu seinen persoenlichen Anliegen erklaert hat und da das es explizit zu seinem Amtsverstaendnis gehoert, sich der Beschwerden von Buergern gegen politische Missstaende anzunehmen, rege ich an, dass viele Kolleginnen und Kollegen sich ebenfalls moeglichst umgehend an den Bundespraesidenten wenden, um unserem Anliegen endlich doch noch Gehoer zu verschaffen. Auch Proteste an Politiker verschiedener Parteien sollten nach Moeglichkeit von vielen individuell vorgetragen werden. Mit persoenlichen Biographien versehen, werden unsere Beschwerden wirkungsvoller.

Cornelia Rauh-Kühne,
Historisches Seminar der Universität Tuebingen,
Wilhelmstr. 36, 72074 Tuebingen;
cornelia.rauh-kuehn@uni-tuebingen.de

Sehr geehrter Herr Bundespraesident,

in Kuerze wird man Ihnen das am 20.12.2001 vom Bundesrat verabschiedete neue Hochschulrahmengesetz zur Unterschrift vorlegen. Dieses Gesetz wird Tausende hochqualifizierter Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen einer ganzen Generation, darunter besonders viele Sozial- und Geisteswissenschaftler, entweder in die Massenarbeitslosigkeit entlassen oder ins Ausland abdraengen. Sie gehoeren jener Generation an, deren Bildungsweg begann, als man in Reaktion auf die sogenannte "Bildungskatastrophe" die Gymnasien und Universitaeten für breitere Kreise oeffnete, als erstmals auch Kinder aus sozial unteren Schichten und insbesondere auch Maedchen die Chance zum Aufstieg durch Bildung verhießen wurde. Nach einem langen Qualifikationsweg werden diejenigen, die es bis zu einer Karriere an der Universitaet gebracht haben, heute knapp vor ihrem Karriereziel durch das im Bulmahn-Ministerium ersonnene Gesetz eliminiert. Denn der novellierte § 57 des Gesetzes sieht in seiner jetzigen Fassung eine neu eingefuehrte 12-Jahres-Hoechstdauer fuer befristete Beschaeftigungsverhaeltnisse an Universitaeten und Forschungsinstituten vor. Damit geht das Hochschulrahmengesetz an den Forschungsbedingungen und insbesondere an den bislang geltenden Qualifikationsbedingungen, unter denen eine ganze Generation von Wissenschaftlern angetreten ist und auf die sie glaubte, vertrauen zu können, vorbei.

Gleichzeitig werden diejenigen C2-Stellen, die habilitierten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen bisher ermoeglichten, die Zeit zwischen Habilitation und Berufung auf eine Professur zu ueberbruecken, gestrichen. An ihrer Stelle werden mit Subventionen des Bundes "Juniorprofessuren" eingerichtet. Der frisch promovierte Nachwuchs soll direkt auf eine Professorenstelle mit voller Lehrverpflichtung gelangen. Auch die Zukunft dieser Juniorprofessor/Innen ist voellig ungeklaert, denn im Unterschied zu jungen Wissenschaftlern etwa in den USA oder in Großbritannien sollen die Juniorprofessoren keine unbefristeten Stellen erhalten. Nach sechs Jahren Taetigkeit in der akademischen Lehre werden sie ebenso wie heutige Habilitierte vor einer viel zu geringen Zahl an frei werdenden Professorenstellen stehen. Die Juniorprofessoren haben also - entgegen den propagandistischen Stellungnahmen aus dem Wissenschaftsministerium - mitnichten eine dauerhafte berufliche Perspektive. Wissenschaftlerstellen werden kuenftig keineswegs attraktiver. Die Forschungsfreiheit eines habilitierenden Assistenten tauschen sie lediglich gegen den voruebergehend erlangten Status eines (schlecht bezahlten) Professors ein. Im Bundesministerium fuer Wissenschaft und Bildung sieht man darin offenbar ein Aequivalent und stellt damit eine bemerkenswerte Intellektuellenfeindlichkeit unter Beweis.

(Naehere Informationen unter www.wissenschaftlichernachwuchs.de und in dem beiliegenden Artikel des Freiburger Ordinarius fuer Geschichte, Prof. Dr. Ulrich Herbert, in der Sueddeutschen Zeitung vom 9.1.2002.)

Aus den genannten Gruenden bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Bundespraesident, das Hochschulrahmengesetz in seiner jetzigen Fassung nicht zu unterschreiben. Keinesfalls darf § 57 des Gesetzes unveraendert Rechtskraft erlangen, sollen nicht Tausende Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ihrer beruflichen Perspektive, ihrer materiellen Existenz und ihres ohnedies schon schwer beschaedigten Vertrauens in die Politik beraubt werden!

Alle Versuche der betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, waehrend der Ausarbeitung des Gesetzes im zustaendigen Ministerium von Frau Bulmahn Gehoer zu finden, verliefen ergebnislos. Aus der Presse konnten Betroffene statt dessen jetzt erfahren, dass man im Wissenschaftsministerium ihre - so die Wortwahl eines Ministerialbeamten - "Verschrottung" plant (vgl. den Artikel von Prof. U. Herbert). Diejenigen, die versucht haben, ihre Bedenken vorzutragen, sprechen von einer "Beratungsimmunitaet des Ministeriums". Der Fernsehauftritt eines Staatssekretaers im ZDF verriet eine erschreckende Intransigenz. Versuche, die Ministerin ueber die email-Anschrift ihrer Homepage im Internet zu erreichen, erbringen die Antwort ,Empfaenger unbekannt' ("an O/R-Name was unrecognizable"). Kann Buergern die Arroganz der Macht noch drastischer demonstriert werden? Geht es doch fuer Tausende von hochqualifizierten Nachwuchswissenschaftlern und deren Familien um die Fruechte jahrelanger entbehrungsreicher Forschung und um mehr: ihre materielle Existenz.

Ich erlaube mir, meinen unzustellbaren Brief an Frau Bulmahn, worin ich als Angehoerige der "Schrott"-Generation die Auswirkungen des Hochschulrahmengesetzes auf meine Familie schildere, diesem Schreiben beizulegen.
Vielleicht gelingt es ja dem Bundespraesidialamt, die Adressatin zu erreichen.

Mit der dringenden Bitte um Ihre Intervention, Herr Bundespraesident, verbleibe ich Ihre Cornelia Rauh-Kuehne, Privatdozentin am historischen Seminar der Universitaet Tuebingen


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Cornelia.Rauh-Kuehne@uni-tuebingen.de
Subject: HRG
Date: 23.01.2002