"Das niederlaendische Universitaetssystem ist in fast jeder Hinsicht dem deutschen ueberlegen", erklaerte Rainer Fremdling, Professor fuer Volkswirtschaftslehre und Geschichte an der Rijksuniversiteit Groningen, letzten Freitag in Bonn. Er war einer von 20 deutschen Hochschullehrern aus 11 europaeischen Laendern, die die Friedrich Ebert-Stiftung zu einer Tagung ueber die deutsche wissenschaftliche Migration der Gegenwart eingeladen hatte. Fremdling hatte in Deutschland promoviert, war aber dann in die Niederlanden emigriert, weil ihm dort attraktivere Arbeitsbedingungen angeboten wurden. Dies ist kein Einzelfall. Seit Jahrzehnten gehen hunderte von deutschen Nachwuchswissenschaftlern ins Ausland, weil sie hier entweder keine Stelle finden oder wegen traditioneller Abhaengigkeiten ihr innovatives Lehr- und Forschungspotential nicht entfalten koennen.
Ziel der Tagung war aber nicht, eine Klagemauer zu errichten. Die deutschen Migranten wollten viel mehr auf Grund ihrer langjaehrigen Erfahrung im europaeischen Ausland Impulse und Denkanstoesse fuer die deutsche Universitaetsreform wie fuer die weitere Harmonisierung der Ausbildung in der Europaeischen Union geebn.
Ein erster Kritikpunkt betraf die Provinzialisierung der deutschen universitaet. Philippe Viallon von der Franzoesischen Botschaft, die die Tagung finanziell unterstuetzte, wies daraufhin, dass in Frankreich 256 Deutsche lehren, aber in Deutschland nur 10 Franzosen. In der Bundesrepublik sind knapp 5% der Hochschullehrer Auslaender, in Frankreich sind es 8,5%, in Grossbritannien 17%, bei Neueinstellungen, etwa in Manchester, bis zu 50%. Dass in Deutschland auch anders gehen kann, zeigt die deutsche Reformuniversitaet Erfurt: Nach einem Bericht ihres Praesidenten Bergsdorff auf der Konferenz der "German Studies Association" in Washington, knapp eine Woche vor der Bonner Tagung, stammen 50% der dortigen Professoren aus dem Ausland.
Ein weiteres Problem ist die prekaere Lage deutscher Jungakademiker nach Promotion und Habilitation, die als "Dr. habil. Hoffnungslos", wie "Die Zeit" einmal titelte, keine Stelle bekommen. Albrecht Ritschl, der nach langer Lehrtaetigkeit in Spanien und der Schweiz gerade nach Berlin berufen wurde, analysierte mit dem scharfen Skalpell des Wirtschaftshistorikers die Habilitation als ein rudimentaeres Kuriosum, eine Art "zuenftlerisches Steuerungsinstrument" der Professoren aus vergangenen Zeiten, die damit den Zugang zu den frueher sehr lukrativen Hoerergeldern kartellmaessig beschraenkten. In fast allen anderen Laendern ist heute eine gute Promotion die einzige Voraussetzung fuer eine Dauerstellung als "Lecturer" oder "Maître de conférence", auch dann, wenn wie in Frankreich erst eine kumulative Habilitation den Zugang zur Professur ermoeglicht.
Dass in der deutschen Berufungspraxis sachfremde Kriterien wie die Protektion von Schuelern eine grosse Rolle spielen, ist bekannt. Christhard Hoffmann (Bergen) hob die hohe Transparenz bei Nominierungen in Skandinavien hervor, Hartmut Pogge von Strandmann (Oxford) erklaerte, dass wegen der von externen Forschungsevaluationen abhaengigen Geldmittel deutsche Kandidaten mit guten Publikationen in England sogar mehr Chancen haben als die Einheimischen.
Die ueberlangen Studienzeiten sind in Deutschland ein staendiges Aergernis. In den Niederlanden garantiert ein ausgekluegeltes System von finanziellen Sanktionen (Kombination von Studiengebuehren und -gehalt) und intensiv begleiteten Studiengaengen mit genau berechnetem Arbeitsaufwand - pro Jahr 42 Wochen zu 40 Stunden -, dass alle Studenten mit 22 Jahren fertig sind. Aber selbst Laender wie Spanien haben das Studium laengst straff strukturiert und auf international anerkannte Evaluierungspunkte ("Credit points") und Abschluesse (B.A. und M.A.) hin orientiert. Das von der Bildungsministerin Pilar del Castillo gerade eingebrachte Hochschulrahmengesetz, das ca. 600 Verbesserungsvorschlaege der verschiedensten Gremien beruecksichtigt, wird verbleibende Missstaende beseitigen und Spanien vielleicht an die Spitze der europaeischen Wissenschaftsorganisation katapultieren.
Auf der Tagung referierten nicht nur Migranten, sondern auch Vertreter einschlaegiger Institutionen: Dirk Schueller vom Bundesbildungsministerium stellte unter dem Titel "Schluss mit dem brain drain?" die im neuen Hochschulrahmengesetz vorgesehene Juniorprofessur vor, die deutschen Nachwuchswissenschaftlern sofort nach der Promotion das Recht zu selbstaendiger Forschung und Lehre gibt. Beate Scholz von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erklaerte die verschiedenen Foerderungsmoeglichkeiten ihrer Institution. Christian Tauch von der Hochschulrektorenkonferenz gab einen Ueberblick ueber die Ansaetze zur Schaffung eines gemeinsamen europaeischen Hochschulraumes in Europa, der mit den Beschluessen der europaeischen Bildungsminister in Bologna und Prag ueber die Einfuehrung eines verbindlichen zweistufigen Studiums mit international anerkannten Abschluessen erste Konturen zeigt.
In ihrer Schlussresolution begruessten die Teilnehmer einhellig die von Bundesministerin Edelgard Bulmahn eingeleiteten Reformen, insbesondere die leistungsabhaengige Bezahlung der Hochschullehrer sowie die Schaffung der Juniorprofessur, plaedieren aber auch fuer eine staerkere Internationalisierung der deutschen Universitaet: Straffung der Studienzeiten durch kontinuierliche Pruefungen nach einem Kreditpunktesystem, Zweiteilung des Studiums in ein Regel- und ein Aufbaustudium, Errichtung von kombinierten Teilzeitprofessuren durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft auf die deutschlandbezogene Forschung im Ausland, Erhoehung des Anteils auslaendischer Hochschullehrer von derzeit knapp 5% auf 20%. Nur so koennten die deutschen Universitaeten den Vorsprung anderer europaeischer Laender wieder aufholen und international wettbewerbfaehig werden.
Eberhard Demm (Universite Lyon III/Univeristaet Heidelberg) hatte gemeinsam mit Hartmut Soell (Universitaet Heidelberg) und Manuela Erhart (Friedrich Ebert-Stiftung) die Tagung organisiert, die unter der Schirmherrschaft von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn stand.
[Eine verkuerzte Version ist schon in der "Welt" vom 22.10.01 erschienen.]