Quelle - email <H-Soz-u-Kult>
From: Rene Schiller <rene.schiller@rz.hu-berlin.de>
Subject: Elitenwandel (DFG-Projekt)
Date: Thursday, January 23, 1997 18:31:31 MET |
Liebe Kollegen,
im Namen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Berliner DFG-Projekts
"Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung", das ausfuehrlich
unter der Adresse
http://www2.rz.hu-berlin.de/inside/geschichte/ifg/projekte/eliten/elite3.htm
vorgestellt wird, moechte ich hier einige Grundannahmen unseres
Forschungsvorhabens zur Diskussion stellen.
In einer Langzeitstudie, die den Zeitraum von 1750 bis 1933 umfasst, untersuchen
wir den Prozess moderner Elitenbildung aus Adel und Buergertum, und zwar
aus der Sicht des Adels heraus. Dabei betonen wir die grundsaetzliche
Notwendigkeit der Elitenkonstituierung - dass heisst der Herausbildung eines
politischen und kulturellen Minimalkonsenses zwischen den Fuehrungsschichten
- fuer die kapitalistische, buerokratisierte, wissenschaftlich entmystifizierte,
demokratische Massengesellschaft. Dieses Minimum erfolgreicher Elitenneubildung
kam in Deutschland bis 1933 - im Unterschied zu England und Frankreich -
offensichtlich nicht weit genug voran, um maessigend auf den schmerzhaften
Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung einzuwirken.
-
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah sich der Adel in Deutschland als
Positions- und Wertelite, doch setzte das aufklaererisch-liberale (Stadt-)
Buergertum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert seinen eigenen universalen
Anspruch dagegen. Die sukzessive Aufloesung dieses Anspruches und die damit
einhergegangene Pluralisierung des utopisch-sozialverbindlichen buergerlichen
Wertesystems machte fuer die sich herausbildende moderne Industriegesellschaft
die Ausbildung funktionaler Eliten noetig, in denen Teile des Adels und des
Buergertums sich begegnen sollten, um schliesslich eine neue gesamtstaatliche
Elite zu konstituieren.
-
Trotz unuebersehbarer Beharrungs- und Adaptionsleistungen ist die Geschichte
des Adels im 19. und 20. Jahrhundert als eine Geschichte des, freilich immer
wieder gebremsten oder gar gestoppten Niedergangs zu begreifen. Die sich
rasch ausbildende moderne Massengesellschaft, der Aufstieg des
Industriekapitalismus, die Bildung von Erwerbsklassen, die Saekularisierung
und die "entzauberte" Weltdeutung, schliesslich der Druck zur offenen
Partizipation entzogen dem Adel zunehmend die Grundlagen seiner urspruenglichen
Vorrangstellung. Es gelang grossen Teilen des Adels wenig oder gar nicht,
flexible Strategien zu entwickeln, mit denen der Weg in die moderne Gesellschaft
statussichernd haette bewaeltigt werden koennen.
-
Es scheint fuer Deutschland paradigmatisch zu sein, dass der Diskurs ueber
neue Fuehrungsschichten nicht um ein Konzept des Elitenaustausches oder -
wandel kreiste, sondern die Frage nach der Bildung eines "neuen Adels" im
Mittelpunkt stand. Nicht zufaellig und unabsichtlich tradierte das
neohumanistische Kultur- und Bildungsideal des Buergertums in sich viele
Elemente der alten Adelskultur. Sogar die Intellektuellen in Deutschland
favorisierten "aristokratische" und "charismatische" Elitenmodelle gegenueber
liberalen Partizipationsideen, wie an den Diskussionen ueber
"Masse-Elite-Fuehrer" des fruehen 20. Jahrhunderts abzulesen ist.
Diese grundsaetzlichen Ueberlegungen bilden einen wesentlichen Teil des
Hintergrundes der sondenartig angelegten Teilstudien der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Projekts. Wir wuerden uns freuen, wenn unsere Diskussionen
auf diesem Weg eine weitere Bereicherung erfahren.
Rene Schiller
Projekt "Elitenwandel"
Email: rene.schiller@rz.hu-berlin.de
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