"Warum erst jetzt?" - Deutsche Historiker in der Diktatur. Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte

von Ilko-Sascha Kowalczuk

Replik von Wilfried Lagler

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Thema "Warum gerade jetzt - Deutsche Historiker im NS" ist sehr vielschichtig; ich moechte hier nicht auf alle Aspekte, die Herr Kowalczuk angesprochen hat, eingehen. Nur folgendes erscheint mir aus grundsaetzlichen Erwaegungen heraus wichtig zu sagen: Jede Person, die zum Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung und Wuerdigung werden soll, hat das Recht, mit ihrem Denken, Handeln und auch der Sprache aus der Zeit heraus, in der er/sie lebte, verstanden zu werden. Dies wuerden wir auch fuer uns in Anspruch nehmen wollen, wenn spaeter jemand ueber uns arbeiten und schreiben wollte. Auch jeder Historiker ist von den Anschauungen und der Sprache seiner Zeit, in der er/sie lebte, gepraegt. Fuer viele dieser Praegungen kann man nichts - niemand kann zugleich IN seiner Zeit leben und UEBER seine Zeit urteilen, als waere es eine ferne Epoche. Die Diskussion um bedeutende bundesrepublikanische Historiker, die mit oder ohne ihr Zutun gewissermassen zu "Denkmaelern" geworden sind, darf nicht in dem Bestreben geschehen, diese Persoenlichkeiten von ihrem Sockel zu reissen oder ihnen einfach zu zeigen, dass wir Nachgeborenen es eben doch besser wissen, wie sie haetten handeln sollen. Diese Betrachtungsweise ist ahistorisch. NATUERLICH wissen wir heute ueber die Epoche des NS sehr viel besser Bescheid als die Zeitgenossen. Aber das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Davon abgesehen gibt es natuerlich individuelles Versagen, Schuld usw. einzelner Persoenlichkeiten, besonders dann, wenn sie es nach 1945 zu kaschieren versuchten. In einzelnen Faellen (z.B. besonders bei Karl Dietrich Erdmann) hat jedoch die Forschungsarbeit gegenwaertiger Kollegen auch nur Marginalien zum Vorschein gebracht, die die Verdienste in Forschung und Lehre nach 1945 nicht schmaelern koennen.

Der Vergleich zwischen NS und DDR-Geschichte muss auf jeden Fall mitberuecksichtigen, dass die Epoche des NS 12 Jahre dauerte, die Geschichte des zweiten deutschen Staates immerhin 44 Jahre! - was fuer die Praegung eines Menschenlebens doch auch einen bedeutsamen Unterschied macht.

Mit freundlichen Gruessen
Dr. Wilfried Lagler
Universitaetsbibliothek Tuebingen
Postfach 2620
Wilhelmstr.32
D-72016 Tuebingen

Tel.: (49) +7071-297-2834
Fax.: (49) +7071-29-3123


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Wilfried Lagler" <wilfried.lagler@ub.uni-tuebingen.de>
Subject: Re: Artikel: "Warum erst jetzt?" - Deutsche Historiker ...
Date: 2.12.99