"Warum erst jetzt?" - Deutsche Historiker in der Diktatur. Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte

von Ilko-Sascha Kowalczuk

Jüngst erschien der Band "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus", in dem unter der Herausgeberschaft von Winfried Schulze (München) und Otto Gerhard Oexle (Göttingen) die nunmehr seit zwei Jahren heftig geführte Diskussion über die Rolle deutscher Historiker zwischen 1933 und 1945 bilanziert wird. Hervorgegangen ist der Band aus der mittlerweile legendären Sektion auf dem 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt/M. In dem Band kommen neben den beiden Herausgebern jüngere Kritiker wie Peter Schöttler, Götz Aly, Ingo Haar, Matthias Beer oder Michael Fahlbusch ebenso zu Wort wie bekannte Repräsentanten der westdeutschen Geschichtswissenschaft (Wolfgang J. Mommsen, Hans Mommsen, Wolfgang Schieder, Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka). Die Positionen der Autoren sind weitgehend bekannt und erfahren nur geringfügige Nuancierungen. Dies schmälert keineswegs das Anliegen des Bandes. Ihm ist eine hohe Verbreitung zu wünschen.

Dennoch vermag auch dieses vorläufige Resümee eine Frage nicht zu klären: Warum beschäftigten sich ausgerechnet die Historiker und Historikerinnen mit dem politischen Verhalten ihrer Lehrer während der braunen Diktatur erst so spät? Warum kam es zu dieser längst fälligen Debatte erst fünfzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Hitler-Tyrannei?

Diese Fragen sind immer wieder Gegenstand der zum Teil scharfen Auseinandersetzungen. Die unterschiedlichen Antworten darauf müssen hier nicht wiedergegeben werden; sie sind bekannt bzw. Können nun im oben genannten Band nachgelesen werden.

In den Diskussionen fehlt bislang eine Frage, deren Beantwortung durchaus hilfreich dabei sein könnte, herauszufinden: Warum erst jetzt? Diese Frage lautet schlicht: Ist eine solche Diskussion um die Verstrickung von Historikern in die NS-Zeit eventuell erst möglich geworden nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur? Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Umgang mit der DDR-Vergangenheit und der NS-Vergangenheit?

Winfried Schulze, Gerd Helm und Thomas Ott schreiben in ihren einleitenden "Beobachtungen und Überlegungen zu einer Debatte": "Während der Andrang zur Sektion über die Vergangenheit der Historiker im 'Dritten Reich' schon die formale Organisation vor einige Probleme stellte, war der Zulauf bei jenen Sektionen, die sich mit der Vergangenheit der intellektuellen Eliten in der ehemaligen DDR beschäftigten, durchaus überschaubar. Es ist hier nicht der Ort, diesen frappierend unterschiedlichen Umgang mit Vergangenheit zu vertiefen oder gar zu spekulieren, ob das scheinbare 'Desinteresse' analoge Gründe haben könnte, wie dies auch fuer den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Krieg galt. Gleichwohl scheint diese 'Gleichgültigkeit' zu belegen, daß sich unser Denken noch immer nicht mit den totalitären Irrwegen unseres Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit auseinandersetzt." (S. 11) So sehr dem allgemeinen Gedankengang der Autoren zuzustimmen ist, irren sie doch in einem Punkt: Als 1990 und 1992 auf den Historikertagen in Bochum und Hannover die Rolle der Historiker in der DDR debattiert worden ist, gab es ebenfalls einen vergleichbaren Zuhörer- und Diskussionsbedarf. Das waren die medialen Ereignisse jener Historikertage mit teilweise langfristigen Wirkungen, wobei freilich auch in diesem Fall die Debatten bereits woanders begonnen worden waren. Insofern hat die deutsche Historikerschaft schon ein hohes Interesse an der eigenen, vorzugsweise skandalumwitterten Vergangenheit, aber gleichwohl im Fall der DDR an deren allgemeiner und spezieller Geschichte nur ein sehr marginales.

Bei den unterschiedlichen Antworten "Warum erst jetzt" hat insbesondere Jürgen Kocka sehr differenziert und behutsam versucht, ein Netz von Bedingungen zu knüpfen, das ein nachvollziehbares Erklärungsmuster ergibt. So sieht Kocka u.a. im gegenwärtigen Generationswechsel innerhalb der Historikerzunft selbst, in einer "handlungsgeschichtlichen Akzentverschiebung" innerhalb der Historiographie sowie in der allgemeinen "großen Erinnerungsanstrengung" in der Bundesrepublik Gründe dafür, warum die Debatte erst jetzt möglich wurde. Außerdem sieht Kocka noch einen wichtigen Grund: "der West-Ost-Konflikt, der die intellektuelle Geschichte Deutschlands bis 1990 stark prägte, gehört der Vergangenheit an." Er führt sodann aus: "Es ließe sich im einzelnen zeigen, daß die oft maßlosen, ideologisch überspitzten und politisch instrumentalisierten Angriffe aus der DDR ihre Opfer vor stärkerer Kritik in der Bundesrepublik bewahrten. Auch in anderer Weise dämpfte, erschwerte und behinderte die Frontstellung gegenüber dem Kommunismus die vorbehaltlose Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Tradition im Westen. Der Umbruch von 1989/90 setzte, mit der Verzögerung einiger Jahre, auch im Westen Selbstkritikfähigkeit frei." (S. 351)

Leider geht Jürgen Kocka diesem Gedanken nicht weiter nach. Denn so nachvollziehbar seine Argumentation auch sein mag, einen gewichtigen Punkt übersieht er: Die Diskussion um die Verstrickung der Historiker in die NS-Diktatur hat ein Vorbild, das nur wenige Jahre zurückliegt. Meine These lautet: Die gegenwärtige Diskussion ist nicht denkbar ohne die scharfen Auseinandersetzungen und Debatten um die politische Rolle der Historiker in der SED-Diktatur, wie sie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre geführt worden sind.

Die Diskussionen um die SED-Historiker sind unmittelbar nach der Jahreswende 1989/90 entbrannt, als Armin Mitter und Stefan Wolle, beide von der Akademie der Wissenschaften der DDR und seinerzeit mit an der Auflösung des MfS beteiligt, einen scharf gehaltenen Aufruf zur Bildung eines "Unabhängigen Historiker-Verbandes" veröffentlichten. Daran schloß sich eine Debatte an, die sowohl die politische Rolle der Historiker in der DDR beleuchtete als auch unmittelbare (bekannte) Auswirkungen auf den Demokratisierungs- und Umgestaltungsprozeß in den Historischen Lehr- und Forschungseinrichtungen der DDR bzw. ab dem 3. Oktober 1990 der neuen Bundesländer hatte. Diese Debatte ist erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu einer vorwiegend wissenschaftlichen geworden, was sich mittlerweile in Monographien, Sammelbänden und kaum noch zählbaren Aufsätzen spiegelt. Zuvor spielten vor allem moralische Erwägungen, politische Strategien, individuelle Erinnerungsarbeit (Trauerarbeit fast nie) sowie Ressourcen- und Deutungskämpfe eine Rolle. Die Schlachten sind vorbei, ohne daß ein Historiker sagen könnte, wer nun der eigentliche historische Sieger ist. Aber dies interessiert freilich auch kaum.

Die Bedeutung dieser Auseinandersetzungen auf einer allgemeineren Ebene sind vor allem darin zu suchen, daß unmittelbar nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur jüngere Historiker aus der DDR und etablierte Historiker aus der Bundesrepublik schonungslos die politische Rolle der ostdeutschen Historiker thematisierten und Konsequenzen forderten. Mit anderen Worten: Ohne Ansehen der Person ist die politische Vergangenheit öffentlich diskutiert worden, ist gezeigt worden, wie jemand in Amt und Würden gelangte, ist offengelegt worden, daß ein ganzer Berufsstand in Mißkredit geraten war. Der Aufstand von Nicht-Etablierten gegen Etablierte mußte nach der Wiedervereinigung - wenn auch zeitlich verzögert - seine Wirkungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik hinterlassen. Dies gilt im übrigen ganz allgemein: Die ostdeutsche Revolution hat eben nicht nur die Bundesrepublik vergrößert, sondern hat sie zugleich einschneidend verändert - in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dies mag der Mehrheit in den alten Bundesländern nicht bewußt sein. Aber die erfolgreiche Revolution veränderte das Bewußtsein aller Deutschen - daß ihnen das auch bewußt wird, ist u.a. auch eine Aufgabe von Historikern, sofern sie im öffentlichen Raum agieren.

Die Debatte um die Historiker in der DDR zeigte anschaulich, daß Götter sterblich sind. Nun mögen ältere westdeutsche Historiker sagen, das waren doch nie Götter. Stimmt. Aber wie kommt es, daß die gegenwärtige Diskussion vor allem von jüngeren getragen wird. Könnte es da nicht wenigstens sein, daß sie nicht nur inspiriert wurden, sondern sich mindestens unbewußt auch vergegenwärtigten, wenn dies dort möglich ist, muß es doch auch an dieser Stelle möglich sein?

Dieser Gedanke führt im übrigen zu einer zweiten Wirkung, die die Auseinandersetzung um die DDR-Historiker zeitigte. Denn sie war nicht nur ein positives Vorbild. Manche gegenwärtig beteiligten Historiker könnten den Spieß auch umgedreht haben mit dem Tenor: Wir wollen nun mal zeigen, daß es in der DDR gar nicht so schlimm war, sondern daß die westdeutsche Geschichtswissenschaft belastet ist und zwar noch viel schlimmer, weil Nazi-belastet. Wenn ein solcher "Abwehrkampf" auch gewiß nur marginal eine Rolle spielte, aber immerhin ist es schon augenfällig, daß ausgerechnet ein westdeutscher Historiker und Arzt, der nachweislich jahrelang fuer das MfS als IM tätig war, nach 1990 eine der ersten Dokumentationen zum Thema vorlegte (der übrigens nicht im Band vertreten ist). Und zugleich engagierte sich die selbe Person energiegeladen fuer die Exkulpation seiner zum Teil schwer belasteten Kollegen aus dem Osten. Gleichwohl schmälert dies nicht seine Publikation, verweist aber auf Motivationen, die letztlich auch zur gegenwärtigen Debatte hinführten.

Schließlich eine letzte Bemerkung: Ein Teil der nun an der Auseinandersetzung um die Rolle der Historiker in der NS-Diktatur beteiligten Personen war nach 1990 aktiv in die Umgestaltungsprozesse an den ostdeutschen Lehr- und Forschungseinrichtungen involviert. Bekanntlich gab es seinerzeit eine diesbezügliche tabula rasa, die nach wie vor wissenschaftlich, politisch und moralisch gerechtfertigt ist. Aber natürlich stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis etwa die durch die Zeit 1933 bis 1945 belasteten Biographien von Conze, Schieder, Erdmann u.v.a. zu den Biographien ostdeutscher Historiker wie etwa Paetzold, Engelberg, Prokop u.v.a. stehen? Die zuerst genannten bekamen eine zweite Chance, die meisten aus der DDR nicht. Warum? Zunächst weil das Nachfragen nach 1945 auf einer nominellen Ebene verhaftet blieb und dann, weil sich deren Schüler nachsichtig und Autoritäten respektierend zeigten. Sodann natürlich auch, weil sich die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft großzügig eine zweite Chance einräumte. Emigranten und NS-Widerständler hatten es nun einmal schwer. Das Stichwort Herbert Frahm alias Willy Brandt soll als Beispiel genügen. Die Mehrheit der belasteten Historiker aus der DDR bekam genau aus den umgekehrten Gründen zunächst keine Chance mehr, in öffentlichen Einrichtungen zu arbeiten. Mit anderen Worten: Ob gewollt oder ungewollt - diese entgegengesetzt gewählte Handlungsoption läßt sich auch als ein historischer Lerneffekt interpretieren, hinter den weder die Historikerschaft noch die Gesellschaft noch der Staat zurückgehen sollte.

Wenn Jürgen Kocka jüngst in einem Interview mit der DKP-nahen Zeitschrift "Sozialismus" mit Blick auf die Debatten um die Historiker in der NS-Zeit behauptete, daß beim Abwickeln von Geschichtsinstituten und Kündigen von DDR-Historikern "des Guten zuviel getan worden" sei (zit. in: Neues Deutschland vom 30./31. 10. 1999, S. 15), dann zeigt diese - umstrittene - Aussage, wie eng die beiden Debatten miteinander verflochten sind. Insofern wäre es nützlich, wünschenswert und erkenntnistheoretisch gewiß ergiebig, wenn dieser Zusammenhang breit thematisiert würde. Dann ließe sich vielleicht auch ein leidiges Thema der Geschichte und Gegenwart anhand von diesen und anderen deutschen Fallbeispielen plastisch diskutieren: "Intellektuelle in der Diktatur". Ein Thema, das nicht nur weltweit historisch, sondern leider auch gegenwartsbezogen fuer viele Staaten relevant ist.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Ilko-Sascha Kowalczuk" <h1033djc@rz.hu-berlin.de>
Subject: Artikel: "Warum erst jetzt?" - Deutsche Historiker ...
Date: 1.12.99