Árpád v. Klimó

Überlegungen zur "Vergangenheitsbewältigung" in Ungarn 1989-99.

(Ausarbeitung eines Beitrags zum Geschichtsforum Berlin, 30. Mai 1999)

Im vergangenen Jahr wurden Amnesty International (AI) Übergriffe ungarischer Polizisten gemeldet, zu deren Opfern besonders ungarische Roma oder Ausländer aus den ärmeren Nachbarländern wie der Ukraine gehörten. Es handelte sich um Einzelfälle und die Polizisten handelten im Widerspruch zu ihren Dienstvorschriften und den Vorgaben ihrer Vorgesetzten. Diese Menschenrechtsverletzungen standen im Widerspruch zu den Werten, auf denen die politische Ordnung des Landes beruht.

Zehn Jahre zuvor (1988) berichtete AI über etwa 50 politische Gefangene und 150 inhaftierte Kriegsdienstverweigerer in Ungarn. Die damaligen Menschenrechtsverletzungen waren zwar ebensowenig legal wie die späteren, konnten jedoch mit der damaligen Verfassung, welche die führende Rolle der Staatspartei und die Bekämpfung von "Staatsfeinden" festschrieb, gerechtfertigt werden. Amnesty war noch keine legale Organisation und mußte auf vertrauliche Informanten zählen.

Das angeführte Beispiel zeigt, wie rasch sich Ungarn zu einem liberalen Staat westlichen Zuschnitts entwickelt hat, mit allen negativen wie positiven Seiten. Und gerade weil Ungarn seit 1989 diesem Modell sehr nahekommt, gestaltet sich dort "Vergangenheitsbewältigung" nach deutschem Muster sehr schwierig. Die Tatsache, daß es Begriffe wie "Vergangenheitspolitik", "Geschichtspolitik" und dergleichen, die sich auch in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten herausbildeten, nicht gibt, deutet daraufhin, daß dort andere Wege beschritten wurden. Das bedeutet nicht, daß es die einzelnen Schritte nicht gibt, die den Komplex "Vergangenheitsbewältigung" ausmachen und zu denen die politische, juristische, wissenschaftliche und symbolische "Aufarbeitung" der Diktatur von Seiten des demokratischen Staates gehören. Was offenbar eine deutsche Besonderheit ausmacht, ist die Zusammenfassung dieser einzelnen unterschiedlichen Phänomene zu einer Gesamtschau.

Im folgenden möchte ich versuchen, die wichtigsten Handlungen in Ungarn, die mit dem Komplex in Zusammenhang gebracht werden können, knapp zu skizzieren und dabei die Anwendbarkeit des Begriffes "Vergangenheitsbewältigung" zu überprüfen.

Zunächst wird der juristische Komplex (Bestrafung von Tätern, Rehabilitierung/Entschädigung von Opfern) behandelt, der eng mit der politischen Entwicklung (Elitenaustausch) zusammenhängt (2.), und sich auf die wissenschaftliche Forschung (3.) auswirkt, und schließlich werden Formen der symbolischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit besprochen (4.), um eine abschließende Bewertung vornehmen zu können.

1. "Rechtsstaat" oder "Gerechtigkeit": Bestrafung von Tätern und Rehabilitierung von Opfern

Der Übergang zum liberalen Rechtsstaat verlief in Ungarn äußerst rasch und sehr erfolgreich. Je nach Perspektive begann die Einleitung dieses Prozesses schon in den sechziger Jahren ("sozialistische Rechtsstaatlichkeit"; Verfassungsänderung 1972 - Beschränkung des Maßnahmenstaates; Modernisierung der Staatsicherheit). Ein Rechtsstaat nach westlichem Muster wurde zwischen 1988 und 1990 durchgesetzt. Neben den ökonomischen Erfolgen der letzten Jahre ist es besonders diese Tatsache, welche die baldige Mitgliedschaft Ungarns in der Europäischen Union ermöglichte. Paradoxerweise scheint aber gerade diese rasche und erfolgreiche Vollendung des Rechtsstaats zu einer (aus deutscher Perspektive) wenig eindrucksvollen juristischen "Vergangenheitsbewältigung" beigetragen zu haben. Ein Zitat des Verfassungsgerichtspräsidenten László Sólyom veranschaulicht, warum dies so ist: "Es gibt keinen Schurken, um dessen Bestrafung sich die Schmälerung des Rechtsstaates lohnen würde" (Zitat bei Schauschitz, 240, Anm. 11)

Solyom, der in den sechziger Jahren in Pécs studierte und dann in Jena als Assistent tätig war, hatte als späterer Leiter der rechtswissenschaftlichen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Professor an der Eötvös Loránt-Universität in Budapest in den achtziger Jahren wertvolle Beiträge zur Formulierung eines Umweltschutzrechts geleistet und zählte 1987 zu den Gründungsmitgliedern des Ungarischen Demokratischen Forums (Regierungspartei 1990-94). Als Gastwissenschaftler in Berkeley und Yale hatte er das US-amerikanische öffentliche Recht kennengelernt. (Magyar és Nemzetközi Ki Kicsoda 1998, 949.) Seine entschieden liberale Auslegung des Verfassungsrechtes stellt den Schutz der Persönlichkeitsrechte (auch der Täter) über das besonders in der Bundesrepublik im Hinblick auf die Stasi-Problematik weiterentwickelte "Recht auf Informationsfreiheit" (besonders der Opfer). Man könnte behaupten, Ungarn sei in der verfassungsrechtlichen Auslegung liberaler Prinzipien konsequenter als Deutschland, wo die Verfolgung der Täter der untergegangenen Diktaturen zu einer spezifischen Auslegung geführt hat. Die Spannung zwischen liberalen Rechtsstaatsprinzipien, die auf einen umfassenden Schutz des Einzelnen vor Maßnahmen des Staates zielen, und dem Versuchen einer Vergangenheitsbewältigung, hier der Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, die unter der Parteidiktatur stattfanden, zeigt sich wohl am deutlichsten beim Problem der Verjährung von Straftaten. Dabei spielte eine wichtige Rolle, daß die gravierendsten Straftaten durch Angehörige der Staatsmacht in Ungarn in den Phase der "harten Diktatur" und im Zusammenhang mit der Unterdrückung des antistalinistischen Aufstand von 1956, zwischen 1945 und 1962, stattfanden, während es in der DDR bis 1989 zu wesentlich mehr politischen Straftaten (Mauerschützen) kam. Zudem wurde in Deutschland auf die Aufhebung der Verjährung von NS-Verbrechen verwiesen, einer Rechtspraxis, für die es in Ungarn zumindest keine Präzendenzen im Rahmen eines demokratischen Systems gab. Infolgedessen schob das Verfassungsgericht in Budapest allen Gesetzen, die eine Aufhebung der Verjährung von Straftaten vorsahen, einen Riegel vor.

Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Ländern ergab sich daraus, daß in Ungarn 1989 keine neue Verfassung eingeführt (bzw. eine westliche Verfassung übertragen wurde), sondern die in wesentlichen Zügen revidierte Verfassung von 1949 (die bereits im Zuge des "sozialistischen Rechtsstaats" 1972 umgeschrieben worden war) übernommen wurde.

So konnten in Ungarn nur solche Verbrechen geahndet werden (was in drei Fällen geschah), die im Zusammenhang des als Krieg bewerteten Aufstandes von 1956 geschahen und so unter die Genfer Konvention fielen, welche die Verjährung von Straftaten (Kriegsverbrechen) aufhob. Es wurden in diesem Zusammenhang in einem Verfahren Haftstrafen gegen drei Männer ausgesprochen, die im Dezember 1956 zusammen mit sowjetischen Truppen auf unbewaffnete Demonstranten geschossen hatten (damals gab es 46 Tote und 89 Verletzte).

Mehr Spielraum für eine juristische "Vergangenheitsbewältigung" als bei der Bestrafung von Tätern gab es dagegen bei der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer, allerdings in engen finanziellen Grenzen. Interessant war hierbei, daß die Periode, deren politische Strafverfahren pauschal aufgehoben wurden, gesetzlich zunächst auf die Zeit zwischen 1945 und 1963 beschränkt wurde. Dies war eine politisch motivierte Entscheidung, die den Übergang zur Diktatur (1945-48), die "harte" Phase der Diktatur (1948-56) und die politische Justiz im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Aufstands von 1956, die sich bis 1963 hinzog, umfaßte deutlich von der Phase der "weichen" Diktatur (1963-89) unterschied, obwohl es auch in der zweiten Phase - wenn auch im Vergleich zur DDR in wesentlich geringerem Maße - zu Menschenrechtsverletzungen kam. Die "harte" Phase in Ungarn war dagegen wesentlich blutiger und brutaler als die Zeit der Verfolgungen in der DDR, da es bis 1961 schwieriger war, aus Ungarn zu fliehen und da sich die Weltöffentlichkeit und die Westmächte weniger für Ungarn interessierten.

Zu den Opfern der ersten, "harten" Phase zählten die Hunderttausenden Internierte und in die Sowjetunion verschleppte, von denen nur ein Teil wieder zurückkamen (genaue Zahlen konnten noch nicht ermittelt werden) und die Opfer der ca. 35.000 nach 1956 inhaftierten Personen und ca. 400 Hingerichteten. (Zahlen nach: Litván, Bak, 158) Die Entschädigungsgesetze vom Oktober 1989 und März 1990 betrafen neben den genannten Opfern außerdem die Opfer rassischer und politischer Verfolgung der Zeit seit 1939 sowie die 1946/47 vertriebenen Ungarn-Deutschen. Alle Justizopfer der Parteiendiktatur der Zeit nach dem 4. April 1963, als die Generalamnestie am "Tag der Befreiung" erlassen wurde, können nach einem 1992 erlassenen Gesetz in Einzelverfahren Revision ihrer Urteile und damit zusammenhängend Entschädigung erhalten. (Brunner, 1993, 59) Die Entschädigungen selbst waren meist eher symbolischer Art, es wurden in der Regel Gutscheine für privatisierte Staatsbetriebe ausgegeben bzw. die Rentenzahlungen wurden geringfügig erhöht, aber im Vergleich mit der Regelung in Deutschland und in Relation zur Finanzkraft des ungarischen Staates kann dies dennoch als durchaus "großzügig" gewertet werden.

2. Politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: die Eliten der Parteiendiktatur

Schwierig gestaltet sich auch die politische Vergangenheitsbewältigung in Ungarn, hier am Beispiel der Eliten der ehemaligen Diktatur aufgezeigt. Es dauerte lange, bis ein "Überprüfungsgesetz" (ungarisch átvilágitás oder "Durchleuchtung") verabschiedet wurde (1996). Nach mehreren Revisionen wurde der Kreis der zu überprüfenden Personen auf ca. 600 hohe Funktionsträger (Minister und hohe Beamte) sowie die Parlamentarier begrenzt. Hier hatte das Verfassungsgericht Bedenken gegen einen zu großen Kreis von Personen angemeldet.

Die konservative Regierung unter Antall wollte ursprünglich etwa auch die Leitungen der Medien in den Kreis der zu Überprüfenden einbeziehen, um ein "Gegengewicht" gegen die überwiegend linksliberale Presse zu erreichen (an einem ähnlichen Programm arbeitet auch die neuen Regierung Orbán seit 1998).

Das schließlich unter der sozialistisch-liberalen Regierung Horn verabschiedete Gesetz sah zunächst vor, daß "positiv" überprüfte Funktionsträger, die entweder selbst für die Staatssicherheit gearbeitet oder deren Berichte empfangen hatten oder bei der Unterdrückung des Aufstandes von 1956 mitwirkten, von der Überprüfungskommission zunächst persönlich informiert wurden. Daraufhin wurde diesen belasteten Personen eine Frist eingeräumt, in der sie freiwillig von ihren Ämtern zurücktreten konnten. Taten sie dies nicht, wurden nach Ablauf der Frist ihre Namen im Amtsblatt veröffentlicht, um der Wählerschaft die Entscheidung über deren weitere politische Karriere zu überlassen. Bisher ist niemand der etwa 30 öffentlich gemachten belasteten Funktionsträger zurückgetreten und die Wähler haben sie 1998 allesamt bestätigt. Dies betraf etwa den ehemaligen Ministerpräsidenten Gyula Horn, dessen Tätigkeit in einer Miliz, die 1956 zur Unterdrückung der Aufständischen gebildet worden war, schon vor seiner Wahl 1994 bekannt gemacht wurde. Es kam zu einem Skandal, nachdem die ihn betreffenden Akten aus der Zeit "verschwanden". Horn selbst sagte aus, er habe lediglich an Patrouillen teilgenommen und nicht an Kampfhandlungen, doch können seine Angaben nicht überprüft werden.

Vielleicht noch schwieriger gestaltete sich die Einschätzung des Falles von Rezsô Nyers, einem der wichtigsten Reformpolitiker seit den 1970er Jahren, der 1956-62, also in den Jahren der blutigen Unterdrückung der Opposition, Regierungsmitglied war. Er hatte zweifellos an den damaligen Menschenrechtsverletzungen Anteil (etwa das Todesurteil gegen Imre Nagy), aber er tat sich eben auch als einer der wichtigsten Initiatoren des Übergangs zur Demokratie hervor. In seiner Person zeigt sich deutlich die Grenzen der "Vergangenheitsbewältigung" in Ungarn: soll man auch diejenigen bestrafen, denen auch zu verdanken ist, daß es überhaupt solche Verfahren geben kann?

Doch neben bekannten Sozialisten bzw. ehemaligen Reformkommunisten wurden bei der Überprüfung ihrer Vergangenheit auch prominente ehemalige Oppositionelle belastet, wie etwa Torgyán, der Vorsitzender der (nun wieder zur Regierung gehörenden) Kleinlandwirtepartei, sowie Schriftsteller István Csurka, der Vorsitzende der rechtsradikalen "Partei des ungarischen Lebens und der Wahrheit", die mit über fünf Prozent im Parlament vertreten ist. Da nach wie vor nicht sämtliche Akten der ehemaligen Sicherheitsdienste veröffentlicht sind, sondern noch in jenen Behörden lagern, die aus nationalen Sicherheitsinteressen (Geheimdienste) nicht aufgelöst wurden, kann weder das Funktionieren der ungarischen Stasi rekonstruiert werden, noch kann man sich ein lückenloses Bild der jüngsten Vergangenheit aus dem lückenhaften Quellenmaterial machen. Aber vielleicht ist ein Mißtrauen gegenüber den Hinterlassenschaften der ehemaligen Staatsicherheitsdienste ohnehin angebracht, was dann allerdings auch die Bewertung des Verhaltens der ehemaligen Eliten (und ihrer Gegner) erschwert.

Die gravierendste Maßnahme gegen die Elite der früheren Diktatur bestand in der Offenlegung des Vermögens der Staatspartei, die entgegen den Abmachungen am Runden Tisch vom Herbst 1989 durch eine von den beiden liberalen Parteien (Freidemokraten SzDSz und die heutige Regierungspartei Jungdemokraten Fidesz) initiierten Volksabstimmung erzwungen wurde.

Anders als der Deutsche Bundestag wurde in Ungarn keine öffentliche Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Parteiendiktatur eingerichtet, sondern in geschlossenen Fachkommissionen einige Fragen der jüngsten Vergangenheit erörtert. Der ausgebliebene Elitenwechsel wurde häufig kritisiert, doch der verstorbene Ministerpräsident József Antall erwiderte auf die Vorwürfe aus den eigenen Reihen mit dem Ausruf: "Hätten die Herren doch gefälligst Revolution gemacht!". Auch in diesem Fall stand der friedliche, sich an Gesetzen orientierende Übergang zur Demokratie einer radikalen Wende entgegen. Hier wirkte das Trauma von 1956, das alle Beteiligten zu gemäßigten Verhandlungen am Runden Tisch veranlaßte. Zudem war es trotz des von Gorbatschow signalisierten Wohlwollens aus Moskau (Ende der Breschnew-Doktrin) nicht klar, wie die im Sommer 1989 noch zahlreich in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen auf die politische Entwicklung in Ungarn reagieren würden.

3. Probleme der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Parteiendiktatur in Ungarn

Besonders unbefriedigend, aus der Perspektive der Bundesrepublik erscheint die wissenschaftliche Beschäftigung mit der ungarischen jüngsten Vergangenheit.

Erst 1997 wurde ein "Amt für Geschichte" - die ungarische Gauckbehörde - ins Leben gerufen, das im vergangenen Jahr seine Tätigkeit aufnahm. Dort kann man auf Antrag forschen bzw. als Betroffener seine Überwachungsakten einsehen. In beiden Fällen bekommt man allerdings nur die für höhere Stellen aufbereiteten Zusammenfassungen zu sehen. Doch da man als Forscher keinen Einblick in die Überlieferungsdichte und Herkunft der Quellen hat, ist es schwierig, damit zu arbeiten. (Grundfragen der Quellenkritik: Wer? Wann? Wo? eines Textes sind meistens nur schwer oder nicht zu beantworten - wichtige Stasi-Berichte wurden etwa nicht unterschrieben, neben den "echten" sind zahlreiche "konstrurierte" Informationen enthalten). Zudem fand um die Jahreswende 1989/90 eine umfangreiche Aktenvernichtung statt. Im "Amt für Geschichte" sind etwa 80.000 Dossiers zugänglich, doch Experten, wie der Forscher János Kenedi gehen davon aus, das dies nur ein Bruchteil des gesamten Aktenbestandes sei; umstritten war auch die Wahl des ehemaligen Leiters des Militärarchives, György Markó, der 1977-89 auch Parteimitglied war, als Direktor des Amtes. Das zeigt einen weiteren Unterschied zur DDR, wo Bürgerrechtler sich die Akten angeeignet hatten und die Vernichtung zumindest stoppen konnten.

An den Universitäten beschäftigen sich weiterhin die selben Professoren mit der Zeitgeschichte, die schon vor 1989, damals unter Kontrolle der Staatspartei, Forschung betrieben. Nur haben sie das Telos ihrer Erzählungen verändert, an die Stelle des Sozialismus ist die Demokratie getreten. Das muß natürlich nicht zu schlechten Ergebnissen führen, erschüttert aber zumindest die Glaubwürdigkeit der Forschung.

Ein größeres Problem ist die Tatsache, daß die Gehälter der Wissenschaftler so niedrig sind, daß sie gezwungen sind, sich mit Gelderwerb außerhalb der Universitäten und Institute zu beschäftigen, so daß kaum Zeit für Forschung bleibt. Wie auch bei den Stasi-Quellen ist bei der Finanzierung der Zeitgeschichtsforschung von einer geradezu idealen Situation in Deutschland zu sprechen, die in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern nicht besteht. Ein weiteres Problem ist die Politisierung des Themas, die dazu führte, daß die seit 1998 amtierende Regierung Orbán dem einzigen Zeithistorischen Institut mit internationalem Ruf (das sogenannte ‘56er-Institut, das sich auch mit anderen Phasen der jüngeren Geschichte befaßte) die finanzielle Unterstützung entzog und ein "eigenes" Institut mit politisch genehmen, aber als Historiker nicht ausgewiesenen Personen, gründete.

Dennoch sind in der letzten Jahren wichtige Publikationen zu einzelnen Aspekten der jüngsten Vergangenheit erschienen. (Einen, wenn auch begrenzten, Einblick wird die Herbstausgabe der "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" 1999 bieten).

4. Die symbolische Vergangenheitsbewältigung: das Verschwinden des Kommunismus

Man könnte zu dem Fazit kommen, die Vergangenheitsbewältigung in Ungarn v.a. eine Sache der Gesellschaft, und weniger des Staates, sei. Die Gesellschaft, so scheint es allerdings, hat kein großes Interesse an der Auseinandersetzung mit der jüngsten Zeit. Die Opfer der Diktatur sind eine verschwindende Minderheit, die sich auf dem politischen Massenmarkt allerdings aufgrund ihrer Nähe zu einem Teil der seit 1989 an der Macht teilhabenden neuen Eliten Gehör verschaffen konnte. Wichtiger ist aber, daß für den überwiegenden Teil der Bevölkerung die Jahre zwischen 1989 und 1999 durch ständig zunehmende wirtschaftliche und soziale Probleme gekennzeichnet war, so daß die Kádárzeit, insbesondere die siebziger Jahre, heute für viele in einem milden Licht erscheinen. Die Reallöhne nähern sich erst seit dem letzten Jahr wieder dem Stand von 1988 an. Der Luxus einer umfassenden "Vergangenheitsbewältigung", den sich das wiedervereinigte Deutschland gönnt, fügt sich für die meisten Ungarn wohl eher in das Bild des ökonomischen Paradieses, das der westliche Nachbar, trotz seiner Schwierigkeiten, noch immer zu kennzeichnen scheint.

Doch ist die Perspektive Deutschlands eine verzerrte. Nur in Deutschland konnte es einen fast kompletten Elitenwechsel (zumindest was die obersten Positionen betrifft) geben, weil der größte Teil des Landes sich als "unbelastet" ausgeben konnte, also die Gnade des "richtigen" Geburtsortes besaß, mit all den Problemen, die daraus folgten und die auch in der Zukunft noch als Belastung wirken werden.

Große Bedeutung erhielten aber symbolische Inszenierungen der Reue und Versöhnung. Zunächst gehörte zu diesen die Umbettung der Leiche des unter Kádár 1958 hingerichteten kommunistischen Reformers Imre Nagy im Sommer 1989, oder die "Heimholung" der Leichname Kardinal Mindszentys und Admiral Horthys unter der Regierung Antall.

Als sich am 16. Juni 1989 mehrere Hunderttausend Menschen auf dem Budapester Heldenplatz versammelten, um Nagy, dem Symbol des gescheiterten antistalinistischen Aufstands von 1956 zu gedenken, trat ein 26jähriger Jurist namens Viktor Orbán, der heutige Ministerpräsident, als Vertreter der Generation der nach 1956 geborenen auf. Die Mehrzahl der Sprecher, meist Angehörige der Opfer der Strafprozesse, sprachen jedoch von der Vergangenheit, die Täter (wie Nyers). Vertreter der reformkommunistischen Regierung, die seit 1988 im Amt war, legten Kränze nieder, wie auch Vertreter fast aller Institutionen und Organisationen, sogar Bettino Craxi (damals noch in Italien) ließ einen Kranz im Namen der Italienischen Sozialistischen Partei abliefern. Die Veranstaltung war von einer Vereinigung der Opfer der damaligen Strafjustiz, das man vielleicht mit "Komitee des Grundsatzes der Historischen Gerechtigkeit" übersetzen könnte, organisiert und von den Behörden genehmigt worden (bereits seit einigen Monaten wurde am Runden Tisch zwischen Regierung und Opposition verhandelt). Sie war wohl das wichtigste Ereignis der ungarischen Wende, ein Vierteljahr vor dem Fall der Mauer, unter Einbeziehung von Vertretern des ehemaligen Regimes, der Reformer und der zukünftigen Regierenden.

Zur symbolischen Vergangenheitsbewältigung, deren Bedeutung für die politische Kultur immens ist, gehört auch die im Vergleich zu Deutschland viel rigoroser durchgeführte Umbenennung (meistens: Rückbenennung) von Straßen, Plätzen und öffentlichen Gebäuden; die Wiedereinführung früherer Nationalfeiertage; die Umschreibung der Schulbücher; generell die radikale Umdeutung der Nationalgeschichte in Wissenschaft und Medien. Doch findet auch hier keine Aufarbeitung, sondern eher eine Auslöschung der Periode von 1945-89 statt, wenn man von der verbliebenen Architektur und den stadtplanerischen Eingriffen jener Zeit einmal absieht, alle direkt an die Menschen appellierenden politischen Symbole wurden entfernt.

An ihre Stelle traten Anleihen aus früheren Perioden ungarischer Geschichte, so etwa die "Heilige Stephanskrone" (die der heilige König allerdings niemals auf seinem Haupt trug, und die aufgrund ihrer byzantinischen Herkunft schwer als Symbol für das "westliche" Christentum taugt), die an den "christlich-westlichen" Ursprung des ungarischen Staates und seine (nur behauptete) "tausendjährige" Kontinuität gemahnen soll. Sie ziert nun wieder, wie zur Horthyzeit das ungarische Staatswappen. Man kann von einer sehr oberflächlichen Rechristianisierung und Remonarchisierung der staatlichen Symbole sprechen.

Konkreter war da die "Traumhochzeit" des Enkels des letzten Königs Karls IV. von Habsburg, Georg von Habsburg, mit einer deutschen Prinzessin, die im Oktober 1997 in der Matthiaskirche in Buda stattfand, der früheren Krönungskirche (Großvater Karl war im Dezember 1916 dort gekrönt worden). Zu diesem Medienereignis erschienen nicht nur der Staatspräsident und der sozialistische Regierungschef Horn, sondern die Zeremonie wurde sogar vom Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz durchgeführt. Das neue System hofierte die "Feinde" des ehemaligen Regimes. (1949 war der Primas der katholischen Kirche, Kardinal Mindszenty, unter der absurden Beschuldigung, er wolle mit Hilfe der USA und ihrer Atombomben die Habsburgermonarchie wieder einrichten, zum Tode verurteilt!). Der teilweise spielerische, teilweise ernste Umgang mit Epochen der Vergangenheit, die unter der Diktatur verfemt oder tabuisiert waren, wie die Beteiligung Ungarns am Krieg gegen die Sowjetunion und am Judenmord, gehört zum Komplex der "Vergangenheitsbewältigung" dazu, da nicht nur die jüngste Vergangenheit selbst, sondern auch deren Geschichtserzählungen neu verhandelt werden.

Ein anderes Phänomen, das in gewissem Sinne komplementär zu Versuchen der Auslöschung oder Verdrängung der staatssozialistischen Zeit steht, ist die nicht falsche, aber teilweise übertriebene Externalisierung der Verantwortung über diese Epoche. Unter dem gewiß nicht falschen Hinweis auf die "geopolitische" Lage Ungarns als "kleines" Land zwischen den Großmächten Deutschland und Sowjetunion und nach Erforschung des ausgesprochenen Desinteresses der USA, sich in Ungarn nach 1945 zu engagieren (das hing natürlich auch mit dem Kriegsverliererstatus Ungarns zusammen), waren viele Historiker und ein großer Teil der öffentlichen Meinung der Ansicht, das "Sowjetsystem" sei ebenso wie 1944 der Faschismus von Außen Ungarn aufgezwungen worden. Diese Behauptung entbehrt nicht der Grundlage, dennoch entsteht ein völlig verzerrtes Bild, wenn damit die Bedeutung der internen Faktoren an den beiden Diktaturen und ihren Verbrechen minimiert wird. Aber eine ähnlich bequeme Haltung war auch im Nachkriegsdeutschland verbreitet, als auch die Geschichtswissenschaft den Nationalsozialismus als kleine "Verbrecherclique" um den "Dämon" aus Österreich beschrieb. Auch solche Vereinfachungen der Vergangenheit tragen wohl kaum zu deren "Bewältigung", was man auch immer darunter verstehen mag, bei. Wichtig sind sie aber, und dies ist nicht zu unterschätzen, um die ehemaligen Eliten wie auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in das demokratische System, das im Gegensatz zur Diktatur zweifellos als das "eigene" empfunden wird, zu integrieren.

5. Bewertung

Trotz aller Unterschiede im Ausmaß der im Namen der Diktatur begangenen Verbrechen ähnelt die Situation im heutigen demokratischen Ungarn sehr jener, die in der Bundesrepublik Deutschland oder in Italien zu Beginn der fünfziger Jahre herrschte. Die Gesellschaft und ihre Eliten wenden sich nach dem Ende der Diktatur der Zukunft zu, die sie mit freier Marktwirtschaft und Demokratie im Rahmen der Europäischen Union und der NATO verbinden. Die Integration der Bevölkerung in das neue System und das Funktionieren seiner Institutionen (Parlament, Justiz, Verwaltung) scheinen je besser zu gelingen, je weniger intensiv die "Vergangenheitsbewältigung" - von einigen symbolischen und exemplarischen Gesten der Verabschiedung von dieser Vergangenheit abgesehen - betrieben wird. Doch ist es möglich, daß die erfolgreiche rasche Einführung des demokratischen Systems und seiner Institutionen einen hohen Preis haben könnte. Insofern, als viele Intellektuelle und besonders die jüngere Generation die moralische Berechtigung, der Vertreter des neuen Regimes (sofern sie bereits in der Diktatur an führender Stelle tätig waren) in Zweifel ziehen und damit die gesamte Legitimität der gerade erst eingeführten Demokratie schwächen. Wird die nächste Generation die moralische Frage aufwerfen? Das muß nicht so sein, aber es scheint so, als ob dies der schwächste Punkt des neuen Systems und seiner Eliten sei, und alle, die dieses aus demokratischer Perspektive in Frage stellen wollen, werden sich darauf beziehen. Das verbreitete Mißtrauen, das aus dem "Verschwinden" von Akten und mit der Kontinuität staatlicher Apparate Nahrung bezieht, und nicht gerade den Glauben an den Rechtsstaat befördert und die zahlreichen Skandale, die häufig der ausgebliebenen "Säuberung" und den alten Netzwerken angelastet wird, sind die sichtbarsten Symptome dieser Schwäche. Wie stark oder schwach die ungarische Demokratie tatsächlich ist, wird sich noch zeigen. Man kann aber vermuten, daß ihr eine umfassende "Vergangenheitsbewältigung" nach deutschem Muster nicht verordnet werden muß, da ihre Vergangenheit und der Ausweg aus dieser ein ganz anderer war als in Deutschland.

Literatur:

Amnesty International (ai). Jahresbericht 1986, 1988, 1990, Fischer: Frankfurt/M. 1986, 1988, 1990

Brunner, Georg (Hg.), Ungarn auf dem Weg der Demokratie, Bouvier: Bonn 1993

Litván, György; Bak, János M. (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956, Passagen: Wien 1989

Magyarország politikai évkönyve 1988, Debrecen 1989

Népszabadság, 17. Juni 1989

Nyyssönen, Heino, Der Volksaufstand von 1956 in der ungarischen Erinnerungspolitik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Herbst 1999 (im Druck)

Schauschitz, Attila, Vergangenheitsbewältigung in Ungarn, in: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Hrsg. v. Helmut König u.a., Leviathan-SH 18/1998, 233-260

Schmidt, Andreas S., Der Runde Tisch in Ungarn, in: Südost-Europa 46 (1997), 37-64


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Klimo Arpad <AvKlimo@compuserve.com>
Subject: Texte
Date: 04.01.2000