Sehr geehrte Damen und Herren,

die in Auszügen veroeffentlichte Rezension von Hans Boehm zur Studie von Michael Fahlbusch über die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" enthielt einen Hinweis auf die Wirkungsgeschichte der nationalsozialistischen Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG). Hans Boehm monierte ihr Fehlen in der Studie von Michael Fahlbusch. Mir geht es ebenso.

Da ich mich mit den Forschungsinhalten der Raumforschung und der wissenschaftlichen Politikberatung durch die RAG beschaeftigt habe, einige kurze Anmerkungen dazu.

Mit freundlichen Gruessen

Joerg Gutberger, Institut für Rurale Entwicklung, Georg-August-Universitaet, Goettingen, email: hgutber@gwdg.de

Soziales Wissen fuer Hitler - Annotationen zur Raumforschung und den "Volkswissenschaften".

Raumforschung wurde, wenn wir den Begriff relativ eng halten, im Rahmen der Reichsarbeitsgemeinschaft fuer Raumforschung (RAG), den angeschlossenen Hochschularbeitsgemeinschaften, in den Erhebungsapparaten der Reichsstelle fuer Raumordnung, in den Forschungsabteilungen des Reichsnaehrstandes und in den Planungsabteilungen des Reichskommissariats fuer die Festigung Deutschen Volkstums betrieben. Dass diese Forschungen in der breit angelegten Untersuchung von Michael Fahlbusch (1999) weitgehend ignoriert wurden, ist vor allem deshalb unverstaendlich, weil zwischen den von Michael Fahlbusch als "Volkswissenschaften" apostrophierten Bereichen und der multidisziplinaeren Raumforschung nicht nur personelle und institutionelle Verbindungen bestanden, sondern auch, weil Uebereinstimmungen hinsichtlich der Forschungsthemen, der Forschungsinhalte und der Instrumentarien evident sind. Dazu zaehlen statistische und kartographische Verfahren, sozialdemographische und bevoelkerungsanalytische Techniken, die "Strukturforschung" eines Hans Weigmann oder Gerhard Isenberg, die Realsoziologie Gunther Ipsens und Hans Freyers, die sozialgeographischen Arbeiten des Hans Bobek, die "soziale Raumforschung" eines Werner Essen, Gottfried Mueller oder Adolf Guenther, die "Umvolkungs"-Untersuchungen des Soziologen Hans Joachim Beyer, Sozialstrukturanalysen und Sozialschichtungsuntersuchungen fuer die Besiedlung der eingegliederten Ostgebiete, die Schichtungs- und Fuersorgeuntersuchungen des Fritz Arlt, eine "Sozialraumforschung" (Friedrich Buelow) der RAG u.v.m. Der "raum- und volkszentrierte Forschungsansatz", den Michael Fahlbusch ausgemacht haben will (dazu Fahlbusch 1999:33), ist um seine soziotechnische Seite zu erweitern.

Die o.g. Uebereinstimmungen kommen nicht von ungefaehr. Die Raumforschung, wie auch die "Volkswissenschaften", standen im Kontext der mehr oder weniger radikalen Umbauplaene fuer die Sozialstrukturen eines nationalsozialistischen Europas (einschliesslich des 'Altreichs'). Man denke etwa an die von Ulrich Herbert bei Werner Best identifizierten "gesellschaftssanitaeren" Entwuerfe fuer eine Grossraumordnung und eine Besatzungsverwaltung ohne kriegswirtschaftliche Anomalien. Die diversen Generalplaene Ost, an deren Ausarbeitungen Human- und Sozialwissenschaftler der Raumforschung massgeblich beteiligt waren, zielten ebenfalls auf die soziale Umschichtung (Privilegierung bzw. Deprivilegierung) von Voelkern und Volksgruppen. Zudem wurde im Krieg ueber einen ueber die baeuerliche Aussiedlung hinausgehenden "innergesellschaftlichen" Umbau des 'Altreichs' nachgedacht, der mit der Siedlungspolitik und den voelkischen Zielsetzungen in engem Zusammenhang stand (vgl. die ausfuehrliche Darstellung in Gutberger 1999, 1994; zur 'totalen Sozialplanung' siehe Roth 1993).

Die Raumforschung war multidisziplinaer strukturiert. Zu beruecksichtigen ist aber, dass das Soziale, die Sozialstruktur und die sozialen Strukturen spaetestens seit den dreissiger Jahren zum Gegenstand des Interesses von Geographen, Oekonomen, Agrarwissenschaftler, Psychologen, Historikern, Volkskundlern usw. wurden. Diese Feststellung schliesst eminente Unterschiede in der Behandlung des Sozialen in den Disziplinen nach 1945 nicht aus; festgehalten werden soll hier aber, dass die genannten Disziplinen (einschliesslich der Soziologie) die Raumforschung getragen haben.

Michael Fahlbusch bezeichnet die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" (VFG) als einen 'Brain Trust'. Die Raumforschung und auch die Arbeitswissenschaft moegen da den "Volkswissenschaften" gleichen (vgl. Gutberger 1999 und Roth 1993). So hat der Leipziger Wirtschaftssoziologe Friedrich Buelow, Leiter der wissenschaftlichen Arbeiten der RAG, 1938 ganz offen eine definitive Parallele zwischen der deutschen Raumforschung und der im Rahmen des New Deal betriebenen Planungsforschung in den USA gezogen (Buelow 1938:308ff). Auch der Sozialoekonom Guenter Schmoelders sah eine vergleichbare wissenschaftliche Politikberatung in Nazi-Deutschland verankert:

"Wie die Wissenschaft nicht in die Abhaengigkeit von wirtschaftlichen Interessen einzelner Geldgeber geraten darf, so gilt es, auch die wissenschaftliche Beratung der Verwaltung nicht dem Standpunkt des einzelnen Ressorts unterzuordnen. So selbstverstaendlich die Gesundheitsverwaltung mit der medizinischen Wissenschaft, das Ernaehrungsministerium mit der Landbauwissenschaft usw. in allen speziellen Fragen zusammenarbeiten wird, so wenig lassen sich beispielsweise die grossen grundsaetzlichen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik von einem engen Ressortstandpunkt aus entscheiden oder wissenschaftlich bearbeiten; als Berater der Politik muss die Wissenschaft der Staatsfuehrung selbst unmittelbar zur Verfuegung stehen. Insofern ging, um auch hier ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten zu waehlen, der vielberufene wissenschaftliche Beirat des Praesidenten Roosevelt, der sogenannte 'Brain Trust', sicherlich von grundsaetzlich richtigen Voraussetzungen aus; dass die meist juedischen Mitglieder dieses Professorengremiums untereinander nicht immer einig waren, dass ihre Ratschlaege daher auch manches Widerspruchsvolle enthielten, mag zu den innenpolitischen Fehlschlaegen des 'New Deal' ebenso beigetragen haben, wie die Widerstaende, die die zentralistische Politik des Praesidenten in den starken foederalistischen Kraeften des Landes, in der Buerokratie und der Parteimaschine fand. In Deutschland bedient sich die staatliche Verwaltung und Gesetzgebung der beratenden Mitarbeit wissenschaftlicher Gremien in den verschiedensten Formen; hier ist insbesondere die Akademie fuer Deutsches Recht, der schon erwaehnte Reichsforschungsrat und - neben dem 'Forschungsdienst' der Landbauwissenschaften - nicht zuletzt die Reichsarbeitsgemeinschaft fuer Raumforschung mit ihren am Sitz jeder deutschen Hochschule eingerichteten Hochschularbeitsgemeinschaften zu nennen." (vgl. Schmoelders 1940:448; Hervorhebungen im Original).

Hinweise auf 'brain trusts' gibt es viele, aber die Austauschprozesse des Wissens zwischen den Politiken, den alten/neuen Buerokratien und den universitaeren/ausseruniversitaeren Wissenschaftseinrichtungen bleiben schwer zu beleuchtende Felder der Historiographie. In welcher Form fliessen welche Resultate, Begruendungen und Handlungspapiere in politische Entscheidungsprozesse ein? Wie werden sie verwendet und wirken sie ueberhaupt (und wenn ja, wie) in der buerokratischen Praxis? Der Beantwortung der "notorischen Frage hinsichtlich des Entscheidungsprozesses" (Dan Diner, bezogen auf die Materialien von Goetz Aly und Susanne Heim) mag Michael Fahlbusch wieder ein wenig naeher gekommen sein; die o.g. Fragen lassen sich aber fuer die Zeit des Nationalsozialismus wahrscheinlich nie befriedigend klaeren. Der These, dass die VFG gar die inhaltlichen Rechtfertigungen und Argumente fuer die Politik und Ideologie des Nationalsozialismus (Fahlbusch 1999:799) geliefert haben sollen, vermag ich nicht zu folgen, denn hier wird ein bei den politischen Entscheidungstraegern offensichtlich nicht vorhandener Rechtfertigungs- und Argumentationsbedarf unterstellt. Aber es ist schon - wissenschaftsgeschichtlich gesehen - eine ebenso wichtige wie erschreckende Erkenntnis, dass wissenschaftliches Know-How integraler Bestandteil des politisch-administrativen Apparates im NS-Staat, auch und gerade der SS-Buerokratien, geworden ist. Die Beruhigungspille, dass es sich angeblich um Pseudowissenschaft handelte, moechte ich nach der Lektuere der Untersuchung von Michael Fahlbusch und den in den letzten Jahren veroeffentlichten Studien zu allen moeglichen Fachgeschichten im Dritten Reich wirklich nicht mehr schlucken.

Wenn wir die Wissenschaft im Nationalsozialismus als kognitives Regelsystem in den Blick nehmen, dann muessen wir uns darauf einlassen, dass z.B. Wissensformen weder mittels 'harter' Daten (Personal, Finanzmittel etc.) quantifizierbar sind noch dass sie sich an institutionelle Abgrenzungen halten. Erste Ergebnisse der Anwendung eines solchen Ansatzes liegen vor (vgl. Gutberger 1999). Dieser Ansatz steht nicht kontraer zur staerker quellenkundlichen Forschung, sondern er ist einerseits auf diese Forschung angewiesen und kann sie andererseits befruchten. Ich komme zu folgenden Schluessen:

Meines Erachtens verbanden Hochschulwissenschaft, ausseruniversitaere Forschung und administrative Erhebungsstellen in der Sozial- und Bevoelkerungsforschung kompatible Erkenntnisinteressen (vgl. dazu die systematischen Ueberlegungen in Gutberger 1997). Im Zuge dieser Gemeinsamkeit der Akteure kam es auch zu Angleichungen in der Erhebungs- und Verarbeitungspraxis. Die gemeinsamen Erkenntnisweisen beruhten nicht (oder jedenfalls nicht allein) auf einer politischen, gar parteipolitischen, Ideologisierung, sondern auf der Uebernahme eines mechanistischen Verstaendnisses sozialer und gesellschaftlicher Organisation. Dass sich administrative und akademische Wissensformen miteinander verschraenken, ist nun kein Spezifikum der NS-Periode. Schon in den davor liegenden Entwicklungsphasen haben "typisch verwaltungskonforme Anforderungsprofile und Effizienzkriterien die anwendungsorientierten Humanwissenschaften beeinflusst" (vgl. Raphael 1996:180). Umgekehrt haben wissenschaftliche Konzeptionen und Resultate der Humanwissenschaften mit zur Ausformung buerokratischer Praktiken beigetragen (ebd.). Bei der Analyse wissenschaftlicher Politikberatungsnetzwerke muessen, so laesst sich folgern, diese Wechselwirkungen in Rechnung gestellt werden.. Mit dem oben erwaehnten mechanistischen Wissenschaftsansatz im Gepaeck, sollte den sozialen Folgeerscheinungen der Buerokratisierungs-, Vermassungs- und Versachlichungsprozesse einer modernen Gesellschaft, und der Nationalsozialismus befand sich - ob er wollte oder nicht - auf dem Boden der Moderne, drastisch zu Leibe ("Gestaltung") gerueckt werden (vgl. dazu auch die einschlaegigen Arbeiten von Jeffrey Herf und Zygmunt Bauman). Dass dieses Unterfangen schon im Ansatz gescheitert waere, liegt fuer den Soziologen auf der Hand, enthebt aber nicht der unangenehmen Frage, wie es - wenn ich richtig liege - zu dieser Koalition des kognitiven Apparates kommen konnte und warum sich so viele Wissenschaftler willig an bevoelkerungs- und sozialtechnologischen Grossprojekten beteiligt haben. Derartige Beunruhigungen bleiben wichtig.

Literatur


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Dr. Joerg Gutberger" <hgutber@gwdg.de>
Subject: Raumforschung und "Volkswissenschaften" (Michael Fahlbusch)
Date: 05.06.2000