Die verlorene Ehre der deutschen Geographie

Bis heute wird die Mittaeterschaft der akademischen Vaeter am Voelkermord der Nationalsozialisten verdraengt

Von Michael Fahlbusch

Liegt es am Misstrauen gegenueber unserer Zukunft? Jedenfalls nimmt gesellschaftliche Verantwortungsbereitschaft einen breiten Raum im Bewusstsein deutscher Geographen ein, die sich in Hamburg ab dem heutigen Samstag zum letzten Mal in diesem Jahrhundert treffen. Unter dem Schlagwort "Geographie und Globalisierung" setzen sie sich fuer das 21. Jahrhundert oeffentlich in Szene. Dabei betont diese Profession wieder einmal ihre gesellschaftspolitische Relevanz: Doch fragt man deutsche Geographen nach ihrer Vergangenheit, herrscht Schweigen.

Als letztes Hochschulfach verdraengt die Geographie bis heute die Mittaeterschaft ihrer akademischen Vaeter am Voelkermord. Emil Meynen, Karl Stumpp, Friedrich Metz oder Hugo Hassinger gelten bis heute als Pioniere ihrer Disziplin. Tatsaechlich hatten sie ihr Handwerk in den Jahren zwischen 1933 und 1945 besonders perfektioniert, als sie im Auftrag der Reichsministerien und der SS landeskundliche und siedlungsgeographische Studien anstellten, um die juedische Bevoelkerung zu "selektieren". Trotzdem gelang diesen Fachvertretern eine glanzvolle Nachkriegskarriere.

Selbst die in den 90er Jahren veroeffentlichten Arbeiten ueber die Geschichte der Geographie tragen zur Verharmlosung bei. So bezeichnet  der Fachdidaktiker Hans-Dietrich Schultz, der immerhin in den 80er-Jahren noch durch kritisch-historische Studien hervorgetreten ist, die ethnopolitische Geographie Emil Meynens und Hugo Hassingers in Anlehnung an ihre Selbstbezeichnungen als "radikal ethnisch-kulturelle" Geographie, ohne ihre politische Funktion zu erfassen. Sie stehe in der Tradition Johann Gottfried Herders. Schultz uebergeht mit dieser Bruecke zur Aufklaerungsphilosophie des 18-ten Jahrhunderts eloquent die Verstrickung fuehrender Geographen der bundesdeutschen Nachkriegszeit mit dem Nationalsozialismus.

Das Bagatellisieren hat Tradition. Ältere Geographen wie Eugen Wirth und Eugen Reinhard verklaerten das Wirken von Friedrich Metz. Dieser wurde 1934, nach dem Juli-Putsch, wegen seiner NS-Aktivitaeten aus Österreich ausgewiesen. Als Rektor der Universitaet Freiburg denunzierte er "juedisch-versippte" Kollegen und verjagte sie aus dem Amt. Trotzdem wird Metz in den Nachrufen und Festschriften ein durchgaengig politisch tadelloses Zeugnis fuer die Zeit zwischen 1933 und 1945 ausgestellt. Augenscheinlich verdraengte eine ganze Generation von Geographen in den fuenfziger und sechziger Jahren den politischen Impetus der voelkischen Geographie.

Dabei nahm die Ethnogeographie nach dem Abschluss des Versailler Vertrages einen ungeahnten Aufschwung: Der Friedensplan der Siegermaechte von 1918, der die Entstehung neuer Nationalstaaten in Ostmitteleuropa erlaubte, war das Resultat eines geopolitischen Schachzuges. Die "Unabhaengigkeit" der Voelker erlaubte die Zerschlagung der alten Reichsgrenzen und die Assimilierung der deutschen Minderheiten. Die Pufferzone kleiner unabhaengiger Staaten in Osteuropa bot den Alliierten hingegen einen doppelten Nutzen. Sie ermoeglichte einen Cordon sanitaire gegen das kommunistische Russland, und sie schwaechte Deutschland.

Damals erkannten die Geographen Albrecht Penck, Wilhelm Volz und Vertreter voelkischer Verbaende als erste die Bedeutung der Ethnopolitik der Alliierten. Sie kooperierten hinfort mit Karl Christian Loesch, dem Ehrenvorsitzenden der Frankfurter Geographischen Gesellschaft. Loesch war einer der radikalsten, aber nichtsdestotrotz einflussreichsten Revisionisten. Mit seinen Kontakten sogar zu Gustav Stresemann unterhoehlte er bestaendig die Vermittlungsversuche des Voelkerbundes. 1924 verschrieb sich Penck dem Chefkartographen des Deutschen Schutzbundes, Arnold Hillen-Ziegfeld. Dieser war aktiver Nazi. Zusammen entwickelten sie die beruechtigte Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens.

Eine sogenannte deutsche Siedlungsbruecke im Osten war schraffiert eingezeichnet, als waere die polnische oder weissrussische Bevoelkerung nicht existent. Die Grenzen des deutschen Kulturbodens suggerierten, Deutschland sei wesentlich groesser als seine politischen Grenzen. Aus diesem Grund stieg die ethnogeographische Kartenproduktion zu einem der wichtigsten Vorhaben der deutschen Geographie auf. Die amtliche deutsche Kulturpropaganda berief sich auf ethnographische Karten von Mitteleuropa vor allem deshalb, weil die Revision der Grenzen "wissenschaftlich" untermauert schien: Wo der Deutsche seine Sprache spricht, da ist sein Raum, lautete die Doktrin.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 fuehlten sich Penck, Metz, Hassinger und Meynen am Ziel ihres politischen Strebens angekommen. Sie kooperierten hinfort mit der SS, der NSDAP und den "gleichgeschalteten" Reichsministerien. Sie bereiteten die Grundlagen fuer die deutsche Volksgruppenpolitik vor. Ihrer voelkischen Logik zufolge sollten nur jene Voelker den Status der Schutzwuerdigkeit zugewiesen bekommen, die "bodenstaendig" waren. Juden und Zigeuner erhielten diesen Status nicht. Sie wurden gemaess der Nuernberger Rassengesetze fuer vogelfrei erklaert.

Wie intensiv sich die voelkischen Geographen schuldig gemacht haben, zeigt ihre Mitwirkung an den Umsiedlungsplaenen der Nationalsozialisten. Nachdem Hitler bereit war, Suedtirol an Italien abzutreten, um die Achse Berlin-Rom zu staerken, sollte die deutschsprachige Bevoelkerung geschlossen nach Polen deportiert werden. Obwohl die Umsiedlung der Suedtiroler intern umstritten war - es handelte sich schliesslich um bodenstaendige "Volksgenossen" -, fertigte Hugo Hassinger im Auftrag der SS eine Machbarkeitsstudie an.  Die deutschen Doerfer sollten geschlossen umgesiedelt werden, fuer die er zwei Bedingungen anfuehrte: Erstens seien die urspruenglichen sozialen und oekonomischen Strukturen zu erhalten, zweitens sei nur der "Kern der ganzen Volksgruppe" in der Lage, die dort lebenden Polen zu verdraengen.

Voelkische Geographen beteiligten sich im Krieg nicht nur am Kulturgutraub, sondern auch an der Vernichtung der juedischen Bevoelkerung in der Ukraine. Die erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion unter Leitung Emil Meynens gegruendete "Publikationsstelle Ost" unterstand im Ostministerium direkt Georg Leibbrandt. Er war Teilnehmer der Wannsee-Konferenz. Der gebuertige Russlanddeutsche war im Auftrag Alfred Rosenbergs mit der Umsetzung der NS-Volksgruppenpolitik beschaeftigt. Unter seiner Direktive nahm das Sonderkommando "Dr. Karl Stumpp" seine speziellen Dorfuntersuchungen vor. Dabei wurden deutsche, juedische und ukrainische Bevoelkerungsgruppen von Gehoeft zu Gehoeft und von Dorf zu Dorf erfasst, bevor der juedische Teil erschossen wurde.

Dass Stumpp seine siedlungsgeographischen Berichte an die Dienststelle Emil Meynens in Berlin uebermittelte, waere aus der heutigen Perspektive vielleicht als "angewandte" Geographie zu bezeichnen. Aber die Arbeitsergebnisse dienten dem Zweck, Gesamtstatistiken von ethnischen Mischungsverhaeltnissen herzustellen. Was konnte damit angefangen werden? Wie die terminale Selektion der Ehepartner von deutsch-juedischen oder juedisch-ukrainischen Mischehen funktionierte, konnte man bereits 1984 in der von deutschen Wissenschaftlern weitgehend unbeachteten Arbeit des israelischen Historikers Meir Buchsweiler nachlesen.

Abgesehen von der Rolle als unmittelbare Tathelfer der voelkischen Geographen kann aus zweierlei Gruenden die Gutheissung der Judenvernichtung, wie sie in den Berichten der Dienststelle Meynens immer wieder angesprochen wurde, heute kaum mehr als "radikal ethnisch-kulturelle" Geographie verklaert werden. Dieser ueberkommene Denkstil beinhaltet eine Herabsetzung des Andenkens an den Aufklaerer Herder, fuer den Voelkerverstaendigung eine oberste Maxime politischen Handelns gewesen ist. Sie ist aber auch ein Beispiel fuer die Banalisierung des Boesen. Die Geographie will auf dem internationalen Parkett mitspielen, aber sie kann sich auf diese Weise nicht aus der historischen Verantwortung stehlen.

Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Geograph in Basel. Juengste Veroeffentlichung: "Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931 bis 1945", Nomos Verlag, Baden-Baden 1999.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From:fifa <fifa@swissonline.ch>
Subject: Deutsche Geographen im Dritten Reich
Date: 07.10.99