Von Michael Fahlbusch
In seinem Aufsatz über die "Aufarbeitung der Vergangenheit" wies Theodor W. Adorno auf ein Phänomen hin, das auch die gegenwärtige Debatte um die braune Vergangenheit der Sozialgeschichte im Hinblick auf das Erinnern beleuchtet: Ökonomen und Soziologen hätten bereits um die Jahrhundertwende den Traditionalismus den feudalen Gesellschaftsformen und der bürgerlichen Gesellschaftsform die Aufklärung und die Rationalität zugeordnet. Das hieße aber nicht weniger, als daß die Reliquien traditioneller Gesellschaftsformen, Erinnerung und Gedächtnis, im Zuge der Aufklärung als eine Art irrationaler Rest liquidiert würden. Diese Erkenntnis erschüttert derzeit auch jene Disziplin, die sich anschickt, einerseits das kollektive Gedächtnis der Nation zu sein, und andererseits mit geschönten Biographien und Legenden in der eigenen Zunft genau jenes Objekt zu liquidieren, welches aufzuarbeiten sie sich berufen fühlte: die Erinnerung. Erstmals zeichnete sich eine solche Erkenntnis im September vergangenen Jahres auf dem Historikertag in Frankfurt ab, und sie macht einen grundsätzlichen Wandel in der Wissenschaftsgeschichte notwendig.
Zur Entlastung seiner Lehrer Theodor Schieder und Werner Conze schrieb Hans-Ulrich Wehler, daß deren Lehrtätigkeit in der Bundesrepublik doppelt so lange gewährt habe wie während des NS-Regimes. Aufgrund neuester Forschungen können wir den politischen Beratern der NS-Macht in der Tat sowohl ausgesprochene "Lernbereitschaft als auch reflexive Lernfähigkeit" bescheinigen, um eine Formulierung Wehlers aufzugreifen. Nur stellt sich die Frage, ob sich diese Lernbereitschaft gegen die Begleitforschung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufrechnen läßt. Inwieweit barbarische und erniedrigende Unrechtsnormen in der NS-Wissenschaft ein halbes Jahrhundert später als pseudowissenschaftlich zu gelten haben oder nicht, ist hier in der Tat kein Glaubensbekenntnis. Die "Entzauberung der Welt", wie Max Weber die rationale Kritik an religiösen Bildern oder Wertorientierungen bezeichnete, gehört zu den zentralen Aufgaben der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichte, gerade dort, wo die Konstruktion eigener Traditionen überprüft werden muß.
Über den biographischen Umweg soll nun das nachgeholt werden, was in den letzten Jahrzehnten versäumt worden ist. Hier beweisen einige Sozialhistoriker erneut ihre Unfähigkeit, mit der Vergangenheit umzugehen. Denn gerade die Biographie ist als wissenschaftliches Medium obsolet geworden, weil sie, wie Wilfried Schulze betont hat, die "disparaten Lebensabschnitte" einer Person nicht mehr darzustellen vermag. Die jüngst bekanntgewordenen biographischen Verfälschungen Schneider/Schwertes und des Staatsrechtlers Theodor Maunz lassen Schulze zufolge an der Leistungsfähigkeit der Biographie zweifeln, die ja immer die Einheit der Person voraussetzt. Der Versuch, mittels Biographien die disziplinäre Entwicklung zu rekonstruieren, tendiert zur Schadensbegrenzung der Fehlleistungen in der Wissenschaftsgeschichte.
Der Gesichtspunkt, wie Wissenschaft in die Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus eingebunden war, wurde bisher von der Zeitgeschichtsforschung systematisch vernachlässigt. Wie Ulrich Herbert in seiner Biographie des Verwaltungsexperten der SS, Werner Best, hervorgehoben hat (Verlag J.H.W. Dietz 1996), fehlen elementare Studien über die eigentlichen Machtzentren; weder existieren Untersuchungen über die Vorstellungen der SS- und der Reichssicherheitshauptamtführung (RSHA) zur Rassen-, Volkstums- und Bevölkerungspolitik noch über die außenpolitischen und "großgermanischen" Zielsetzungen. Selbst über die Geschichte des RSHA oder auch des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS gebe es immer noch keine soliden Studien.
Die Geschichte der NS-Wissenschaft hätte vor allem drei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Sie müßte die Rolle von Forschungsprogrammen neu überdenken, die Systemanalyse von wissenschaftlichen Netzwerken vorantreiben und die politische Beratung anhand der Wechselwirkung von Wissenschaft und Politik untersuchen, denn der Stellenwert der politischen Wissenschaft mißt sich am Grad der wissenschaftlichen Beihilfe zum Holocaust und nicht an irgendeiner ideologischen Affinität zum Nationalsozialismus.
Die Rekonstruktion der Wissenschaftslandschaft im NS hat zwangsläufig den außeruniversitären Entstehungsbedingungen von Forschungsprogrammen und den Ressortforschungen der Reichszentralen Rechnung zu tragen. Die bisher in der Wissenschaftsgeschichte angewandten ideologiekritischen und ideengeschichtlichen Verfahren beruhten bis in die achtziger Jahre auf idealtypischen Vorstellungen von den Stufen wissenschaftlicher Revolutionen. Eine eigene Forschungstradition mit Schwerpunktprogrammen im NS kam dabei gar nicht erst in den Blick: Bar jedweder Quellenkritik gingen Disziplingeschichte und Pädagogik ein heuristisches Bündnis ein; sie analysierten lediglich immanente Entwicklungen einzelner Fächer, wodurch eine Verbindung von Wissenschaft und Politik von vornherein ausgeschlossen wurde. Die wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten begnügten sich mit der Beschreibung einer disziplinären Entwicklung, die den kontinuierlichen Forschungsfortschritt nachzuweisen trachtete und dabei die Entwicklung im NS geflissentlich "übersah". Sie versäumten zu berücksichtigen, daß die "Disziplinierung der Wissenschaft" in der Universität am Ende einer langen Praxis der Entwicklung eines Forschungsprogramms stand: Daß machtpolitische Interessen gesellschaftlich einflußreicher Wissenschaftler über den Erfolg eines Forschungsprogramms entschieden, entfiel in der historiographischen Diskussion vollkommen. Wissenschaftsgeschichte müßte die Entwicklung der Denkmuster von ihren Kernen bis hin zur Professionalisierung in Hochschule und Forschung rekonstruieren. Dazu ist auch ein fächerübergreifender Überblick erforderlich.
Mit den NS-Forschungsprogrammen war eine enge Vernetzung von Wissenschaftlern verbunden. Neueste Untersuchungen belegen die Existenz fester organisierter Wissenschaftsstrukturen im Dritten Reich (was freilich von Zeitzeugen direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geleugnet wurde). Erst wenn die Informationsnetze einzelner wissenschaftlicher Institute und ihre Einbindung in die NS-Forschungsprogramme untersucht sind, kann geklärt werden, inwieweit Wissenschaftler auch als politische Berater einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der NS-Herrschaft durch eine neue Form wissenschaftlich institutionalisierten Denkens geliefert haben. Entscheidend ist hier, daß ein Netzwerk von Wissenschaftlern einen Beraterstab bildete, der die Ministerialverwaltung und Parteistellen systematisch mit Informationen versorgte.
Die damals vorhandene Netzwerkstruktur in den Kulturwissenschaften legt den Verdacht nahe, daß politische Beratung beileibe kein vereinzeltes Phänomen war, welches der Wissenschaft als externes Verfahren zuzuordnen wäre. Die Diskussion über die Rolle von Think Tanks in Europa deutet dieses Defizit an. Politische Beratung durch Think Tanks ist keine Erfindung der vergangenen 30-40 Jahre und schon gar nicht Merkmal einer modernen Demokratie. Weil sie gesellschaftliches Basiswissen bereitstellten und an der Diskussion um ethische Normen beteiligt waren, setzten sich Wissenschaftler gesellschaftspolitischen Einflüssen aus. Für die Untersuchung, inwiefern ein die zentralen Bürokratien unterstützender wissenschaftlicher Beraterstab dem zweckrationalen Handeln der Verwaltungen diente, erscheint Max Webers Begriff der "Rationalität" als hilfreich. Denn unterhalb der Topologie der polykratischen Machtstruktur des NS-Regimes existierte eine rationale bürokratische Struktur, die eine effiziente Umsetzung der politischen Entscheidungsprozesse gewährleistete. Hierbei waren die Funktionseliten, denen auch konservative Rechte der Weimarer Republik angehörten, wichtige Erfüllungsgehilfen. Sie beteiligten sich wiederum auch am Aufbau der Bürokratie in der Bundesrepublik. Gerade die "volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" etablierten mit ihrem Netzwerk aus "braunen" Wissenschaftlern die Beratung in der Volkstumspolitik nach 1945.
Dieser Sachverhalt gewinnt durch neueste Forschungen an Brisanz, die belegen, daß die NS-Ethnopolitik der jungen bundesdeutschen Zeitgeschichte bekannt gewesen ist und von ihr verschwiegen wurde. War der erste Ort der Entsorgung der deutschen Vergangenheit demnach das Institut für Zeitgeschichte in München? Dieses war maßgeblich an der Zeitgeschichtsforschung der frühen Nachkriegszeit beteiligt. Die Ergebnisse Mathias Beers, der sich in seinem Aufsatz "Politik und Zeitgeschichte in den Anfängen der Bundesrepublik" (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1998) mit dem Großforschungsprojekt der ersten Stunde der BRD, der "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" befaßt hat, an dem Historiker und Archivare von Rang und Namen beteiligt waren, bestätigen eindrücklich diese Vermutung: Junge deutsche Zeithistoriker werteten die von den Alliierten seit den fünfziger Jahren rückerstatteten NS-Akten zur Besatzungspolitik und Nationalitäten- und Volkstumspolitik aus. Sie waren genau informiert, als sie unter der Ägide der ehemaligen NS-Volkstumsforscher ihre Studien anfertigten. Haben die jungen Sozial- und Zeithistoriker in der Nachkriegszeit ihre objektive wissenschaftliche Urteilskraft eingebüßt, als sie sich der NS-Ethnopolitik nähern sollten? Sie hätten ihre Ergebnisse immerhin unter der Kontrolle derjenigen Forscher veröffentlichen müssen, die während des Dritten Reiches politische Beratung durchführten, wie Ingo Haar in seiner Hallenser Dissertation über die "Historiker der ,kämpfenden' Wissenschaft" nachgewiesen hat.
Eine Veröffentlichung der 1962 beendeten 1000seitigen Arbeit über Ethnopolitik wurde jedenfalls verhindert, weil sie dem "politischen Selbstmord" der auftraggebenden Behörde, dem Bundesvertriebenenministerium, gleichgekommen wäre. Die Zensur war demnach kalkuliert. Unter der Schirmherrschaft Theodor Oberländers sammelten sich in diesem Ministerium die Seilschaften der NS-Volksforscher neu, um in der Nachkriegszeit Vertriebenenpolitik und demokratische Forschung zu betreiben: Es ging um Verdunkelung, Vorenthaltung wissenschaftlicher Ergebnisse zum Schutz eigennütziger Interessen, Forschungspolitik im Interesse der Vertriebenen und einer auf Einschüchterung und Revisionismus zielenden westdeutschen Ostpolitik. Denn zur gleichen Zeit führten DDR-Historiker eine Propagandakampagne gegen die um das Vertriebenenministerium Oberländers angesiedelten "Ostforscher". Diese Zensur der Vergangenheitspolitik war offenbar der Preis für die Westintegration der BRD.
Die künftige historiographische Forschung wird der heiklen Frage nachgehen müssen, wie es möglich war, daß sich das Netzwerk der Volkstumsforschung von einer dezidiert annexionistischen Forschung und einem Instrumentarium für die Vernichtungspolitik zu einem international angesehenen Forschungszweig der Sozialwissenschaft entwickeln konnte. Um das Ansehen der deutschen Kultur- und Geisteswissenschaft nicht noch weiter zu beschädigen, ist das Netz der Legenden- und Mythenbildung zu durchbrechen. Es sind Arbeiten nötig, die die Nähe zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorbehaltlos aufklären.
Zu fordern ist erstens ein Handbuch über die an der Volkstumsforschung im Dritten Reich beteiligten Institutionen. Es bedarf zweitens wohl keiner weiteren Diskussion, daß die Gründungs- und Wirkungsgeschichte des Instituts für Zeitgeschichte in München unter Hans Rothfels' Direktorium neu geschrieben werden muß, genauso wie die des Netzwerks der neu gegründeten Ostforschungsinstitute.
Über die Frage, warum die Forschung über die Volkstumspolitik des Dritten Reiches ein Torso geblieben ist, wird kaum ein Projekt zu empfehlen sein; dies ist ein Fall, der noch eine ganze Generation von politischen und historischen Untersuchungskommissionen beschäftigen wird.