Quelle - email <H-Soz-u-Kult>

From: Carsten Timmermann <TIMMERMANN@fs4.ma.man.ac.uk>
Subject: Wissenschaftlicher Jargon (vormals: Sokals 'Jux' ...)
Date: Monday, February 24, 1997 10:21:08 MET


Dr. Gert Vonhofs Ausfuehrungen ueber die oft gesuchte Hermetik wissenschaftlichen Jargons, die eine Aura von vermeintlicher Sachkompetenz zu erzeugen soll, kann ich nur zustimmen.

Fuer mich stellt sich darauf aufbauend die Frage nach unserem Selbstbild als Kultur- und Sozialwissenschaftler. Was sehen wir als unsere Aufgabe an? Was ist unser Publikum? Sehen wir uns vor allem als Aufklaerer, als Vermittler von Wissen, oder konzentrieren wir uns auf eine zunehmend selbstreferentielle Wissensvermehrung? Der Jargon unseres literarischen 'Outputs', so denke ich, ist ein Spiegel dieses Selbstbildes.

Ein Vergleich mit den Naturwissenschaften zeigt, dass Autoren wie der Biologe Richard Dawkins, Professor fuer 'Public Understanding of Science' in Oxford, der Palaeontologe Stephen J. Gould und der Physiker Stephen Hawking, die Ergebnisse aus der Evolutionsbiologie und Kosmologie in zugaenglicher und literarisch ansprechender Form fuer ein breites Publikum aufarbeiten, sich unter Kollegen dennoch oder gerade deswegen hohen Ansehens erfreuen. Koennen wir das gleiche fuer uns in Anspruch nehmen?

Zum Teil ja, ich will nicht ungerecht sein. Dem britischen Wissenschafts- und Medizinhistoriker Roy Porter allerdings bringt seine unermuedliche Medienpraesenz und seine schier unglaubliche Produktivitaet auch schon mal boese Verdaechtigungen ein. Und viele populaere Buecher zu historischen Themen werden von 'Aussenseitern' wie Journalisten und freischaffenden Autoren veroeffentlicht. Vertragen sich etwa akademische Standards nicht mit Popularitaet?

Im Hinblick auf die Goldhagen-Kontroverse koennte auch ein wenig Neid und Verbitterung im Spiel gewesen sein. Irgendwo ist es schon ungerecht, dass jemand fuer die Aufarbeitung seiner Dissertation mehr Beachtung bekommt als KollegInnen, die seit Jahrzehnten an aehnlichen Problemen arbeiten, und dann noch nicht einmal zitiert werden. Auf der anderen Seite ist Goldhagens Buch fuer viele seiner Leser moeglicherweise die erste historische Monografie, die sie in der Hand halten. Ein zweischneidiges Schwert: auf der einen Seite argumentative Schaerfe in der oeffentlichen Debatte, auf der anderen ein wenig Stumpfheit bezueglich seiner akademischen Meriten.

Zurueck zu Richard Dawkins: Ich finde seine Argumente oft problematisch, doch nuetzte es wenig, wenn ich meine Kritik in 'hermetischen' Jargon kleidete, fuer den ich moeglicherweise die Zustimmung der Kollegen faende. Im Idealfall moechte ich sein Publikum ueberzeugen.


Carsten Timmermann

Centre for the History of Science, Technology and Medicine

University of Manchester

Mathematics Tower, Oxford Road, Manchester M13 9PL, UK

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