Quelle - email <H-Soz-u-Kult>
From: "Arne Schirrmacher"
<Arne.Schirrmacher@extern.lrz-muenchen.de> |
Zu: Carsten Timmermann "Sokals 'Jux' und die Wissenschaftssoziologie"
Carsten Timmermanns provokativer Beitrag hat mich enttaeuscht und wirft die Frage nach den Standards der Diskussion auf der H-Soz-u-Kult Liste auf.
Abgesehen davon, dass darauf verzichtet werden sollte, Personen als vermeintlich zugehoerig zu einer pauschalen Gruppe abzukanzeln, und statt dessen inhaltlich argumentiert werden sollte - auch die Verwendung von Vorwuerfen "platter Polemik" und "Borniertheit" sind vielleicht besser auf ihren wissenschaftlichen Ertrag zu ueberdenken -, lohnt es sich nicht, ohne Beachtung der in alle Nuancen gefuehrten angelsaechsischen Diskussion im deutschen Sprachraum wieder von vorne anzufangen. (Nach dem Motto: "Es ist zwar schon alles gesagt worden aber noch nicht alles auf deutsch...") - Soviel sollte die Diskussion um Deutsch oder Englisch als Wissenschaftssprache erbracht haben.
(Eine genauere Betrachtung der deutschen Zeitungen ergibt uebrigens, dass alle wichtigen darueber berichtet haben, vgl. etwa "Auf dem Leim gegangen. Wie ein Physiker den akademischen Zirkus austrickst" in der FAZ, "Integrative Magie. Warum Geisteswissenschaftler Naturwissenschaftlern nachlaufen" Tagesspiegel 27.8.96, dito SZ etc.. Der erwaehnte Beitrag Steven Weinbergs ist hingegen kein Beitrag aus der deutschen Wissenschaft, sondern wohl die Uebersetzung seines Artikels im New York Review of Books vom 8.8.96.)
Zum Beitrag nur kurz:
Timmermanns Beitrag in der H-Soz-u-Kult Liste scheint mir die Vertrautheit der Mitglieder mit eben den Sozial- und Kulturwissenschaften zu unterschaetzen: Eilige Saetze etwa zu Thomas S. Kuhn - ganz abgesehen von der unsinnigen Verwendung des Terminus "Quantensprung" - wie der folgende sind hier m. E. nicht angebracht:
Das Buch des zum Wissenschaftshistoriker konvertierten Harvard-Physikers, der im Sommer letzten Jahres starb, tauchte 1962 auf wie ein U- Boot aus dem grossen Unternehmen der 'Internationalen Enzyklopaedie der Einheitswissenschaften', das Otto Neurath und Rudolf Carnap begruendet hatten, beide Mitglieder des Wiener Kreises. Kuhn schlug vor, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht den Gesetzen der Logik folge, sondern kognitive Quantenspruenge mache, von einem Paradigma zum naechsten, die er mit Gestaltwechseln verglich. Kennen Sie die Bilder...
Aergerlich sind ebenso die voellig pauschlen Mutmassungen und die offensichliche Unkenntnis ueber die differnzierte Rezeption des Kuhnschen Essays in der Wisschaftsgeschichte (vgl. etwa "Paradigm lost? A review symposium", ISIS 70, 1979, 429-440).
Kuhn selbst scheint ein Leben lang bereut zu haben, was er da 1962 losgetreten hat. In den meisten spaeteren Schriften versuchte er Aspekte der Struktur zu revidieren. Doch bei Wissenschaftssoziologen und -historikern fiel das Buch auf fruchtbaren Boden, vermutlich gerade wegen seiner relativistischen Tendenz.
Den Rest erspare ich mir zu kommentieren.
Statt der Diskussion von Timmermanns Beitrag in unserem Medium waere m. E. der Hinweis auf die Sokal WWW Seiten, auf denen die angelsaechsische Diskusssion dokumentiert ist, weit hilfreicher gewesen:
http://weber.u.washington.edu/~jwalsh/sokal/
Sokals Beitraege finden sich unter:
http://www.nyu.edu/gsas/dept/physics/faculty/sokal/index.html
Arne Schirrmacher, Deutsches Museum
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