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From: Carsten Timmermann <timmermann@fs4.ma.man.ac.uk> |
Liebe KollegInnen.
Mit dem folgenden Text moechte ich auf einen Vorgang reagieren, der im angelsaechsischen Sprachraum im letzten Jahr fuer viel Aufsehen gesorgt hat, der in Deutschland aber bis auf einen Artikel des Physikers Steven Weinberg im MERKUR (574/97) und des Philosophen Paul Boghossian in der ZEIT unbeachtet geblieben ist. Sokal, Weinberg und Boghossian greifen pauschal 'die Kulturwissenschaften' an, meinen aber vor allem die Wissenschafts- und Wissenssoziologie. Leider ist die Diskussion in Deutschland bis jetzt einseitig geblieben.
Der folgende Artikel ist eine Antwort auf Boghossians Essay. Er ist recht lang fuer dieses Forum, aber vielleicht dennoch interessant fuer den einen oder anderen Leser.
Carsten Timmermann
In seinem Essay in DIE ZEIT Nr 5 vom 24.1.97 kritisierte der New Yorker Philosophieprofessor Paul Boghossian anlaesslich eines eingeschmuggelten 'Jux'-Artikels des Physikers Alan Sokal in der Zeitschrift SOCIAL TEXT die relativistische Grundhaltung der "postmodernen Kulturwissenschaften". Boghossians Angriff wie auch Sokals 'Jux' sind Teil der sogenannten 'Science Wars'. So nennen die beteiligten Akademiker die in den Vereinigten Staaten und Grossbritannien seit einigen Jahren mit heftiger Polemik gefuehrte Debatte zwischen Naturwissenschaftlern und Wissenschaftssoziologen. Wenig in Paul Boghossians Essay sollte unwidersprochen bleiben. Mit dem wenigen will ich hier anfangen: Schwer ist es, dem zu widersprechen was Boghossian ueber die technischen Ablaeufe der Sokal-Affaere zu sagen hat. Die Herausgeber von SOCIAL TEXT haben grob fahrlaessig gehandelt, als sie Sokals verschachtelten, pseudo-postmodernen Text in ihr Heft aufgenommen haben. Besondere Ironie: Es war ein Schwerpunktheft zum Thema 'Science Wars'. Angesichts der Masse konsequent in uebertrieben postmodernistische Schlagwortsprache gefassten Nonsens in Sokals Artikel - er ist fast unlesbar - ist seine Veroeffentlichung in SOCIAL TEXT tatsaechlich ueberraschend, und wahrscheinlich nur so zu erklaeren wie Boghossian das getan hat: die Herausgeber haben Sokal schlichtweg nicht verstanden, sich aber nicht die Muehe gemacht, einen Experten hinzuzuziehen. Sie sind auf die postmodern klingenden Phrasen hereingefallen weil sie dachten, dass ein Physiker in ihren Reihen dem Heft zutraeglich sein muesste. Sokals Experiment hat also hingehauen und sollte eine heilsame Wirkung haben auf die Postmodernen, und uns auf eindeutige und besser verstaendliche Texte hoffen lassen. So weit so gut. Aber Boghossian geht weiter: Er nutzt die Sokal- Affaere fuer eine umfassende Abrechnung mit den Kultur- und Sozialwissenschaften, speziell mit der Wissenschaftssoziologie. Und damit schuettet er, vermutlich nicht unbeabsichtigt, das Kind mit dem Bade aus. Doch lassen Sie mich zunaechst auf Geschichte und Hintergrund der 'Science Wars' eingehen.
I.
Boghossian ist Philosoph, Mitglied jener in den Vereinigten Staaten recht etablierten Tradition analytischer Philosophie, die nach dem Krieg das Erbe des Wiener Kreises logischer Philosophen angetreten und sich immer naturwissenschaftsnah gegeben hat, und die sich daher seit den sechziger Jahren zunehmend Angriffen aus gesellschaftskritischen akademischen Kreisen ausgesetzt sieht. In den zwanziger und dreissiger Jahren dagegen, der grossen Zeit des Wiener Kreises, war der konsequente Bezug auf die Logik der Naturwissenschaften noch ein Instrument linker Kritik an der bisweilen national-chauvinistisch und antisemitisch daherkommenden, metaphysisch orientierten Mehrheit deutscher Philosophen. In den Nachkriegsjahren dann, besonders seit den Studentenrevolten, wurden die Naturwissenschaften zunehmend als "Werkzeuge des Systems" angegriffen, und die analytischen Philosophen mit ihnen. Sie verloren an Einfluss. Das will Boghossian den Angreifern aus den Reihen der Kultur- und Sozialwissenschaften anscheinend nun heimzahlen, und Sokals 'Jux' gibt ihm Gelegenheit dazu. Ob sein vernichtendes Urteil ueber die Wissenschaftssoziologie allerdings berechtigt ist, das ist eine andere Frage.
Auch die Wissenschaftssoziologie hat eine lange Tradition. Nicht ganz so lang wie die logische Philosophie, aber wenn man will, kann man sie ueber Karl Mannheim zu Max Weber zurueckverfolgen. Schon Max Weber hat fuer seine Analyse der Welt einen "Polytheismus der Werte" angenommen und musste sich gegen Vorwuerfe zur Wehr setzen, ein Relativist oder Nihilist zu sein. Weber wurde in den Vereinigten Staaten zunaechst nur selektiv rezipiert. Einflussreich war dort in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg vor allem die Schule von Robert Merton, dessen "Sociology of Science" vermutlich auch Boghossians Zustimmung faende. Merton unterschied zwischen 'guter', reiner Wissenschaft und 'schlechter', ideologisch verfaerbter. Die kognitiven Prozesse allerdings, die zu einer echten wissenschaftlichen Entdeckung fuehrten, waren in Mertons Augen etwas spezielles und hoeheres, und den Soziologen nicht zugaenglich. Er beschraenkte sich auf die Untersuchung institutioneller Zusammenhaenge und ueberliess die Analyse von wissenschaftlichen Entdeckungen den Philosophen.
In den sechziger Jahren schliesslich traf Thomas Kuhns gerade erschienenes Buch ueber 'Die Struktur von wissenschaftlichen Revolutionen' auf eine revolutionsfreudige Grundstimmung unter Akademikern, sorgte fuer viel Wirbel in der Wissenschaftstheorie, und trug zur Institutionalisierung einer neuen, mehr soziologisch als philosophisch orientierten Geschichtsschreibung bei. Das Buch des zum Wissenschaftshistoriker konvertierten Harvard-Physikers, der im Sommer letzten Jahres starb, tauchte 1962 auf wie ein U- Boot aus dem grossen Unternehmen der 'Internationalen Enzyklopaedie der Einheitswissenschaften', das Otto Neurath und Rudolf Carnap begruendet hatten, beide Mitglieder des Wiener Kreises. Kuhn schlug vor, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht den Gesetzen der Logik folge, sondern kognitive Quantenspruenge mache, von einem Paradigma zum naechsten, die er mit Gestaltwechseln verglich. Kennen Sie die Bilder, in dem man entweder Sigmund Freuds Gesicht oder eine nackte Frau sieht, oder entweder eine junge Schoenheit oder eine alte Dame? So ungefaehr stellte sich Kuhn einen Paradigmenwechsel vor: Wissenschaftler verstuenden ihre Beobachtungen entweder durch die Brille des einen oder des anderen Paradigmas. Mehrere Paradigmen koennten gleichzeitig von verschiedenen Forschern verfolgt werden, und alle waeren fest davon ueberzeugt, dass sie recht haetten, da die Anhaenger des einen Paradigmas die des anderen einfach nicht verstuenden, nicht verstehen koennten. Wer am Ende gewinne, das haette nur zum Teil mit der Qualitaet der Paradigmen zu tun. Wann sich das 'bessere' Paradigma durchsetze, wann die wissenschaftliche Revolution erfolge, darueber entschieden vor allem die politischen, institutionellen und sozialen Bedingungen unter denen Wissenschaft getrieben werde. Wenig zu tun habe das mit Logik, damit wer denn eigentlich recht oder unrecht habe. Denn das neue Paradigma ergebe auf der Grundlage des alten keinen Sinn. Es erfordere ein anderes Weltbild. Und wer aendert schon gerne leichtfertig sein Weltbild? Kuhn selbst scheint ein Leben lang bereut zu haben, was er da 1962 losgetreten hat. In den meisten spaeteren Schriften versuchte er Aspekte der Struktur zu revidieren. Doch bei Wissenschaftssoziologen und -historikern fiel das Buch auf fruchtbaren Boden, vermutlich gerade wegen seiner relativistischen Tendenz. Indem es Wissenschaft entzauberte und als eine ganz normale Taetigkeit praesentierte, als einen Teil westlicher Kultur, lud es ein zur kritischen, historischen und soziologischen Analyse von Wissensproduktion, und zum Vergleich mit anderen Kulturen und Subkulturen.
Kein Zweifel, die politische Linke, zunehmend eher 'multikulturell' als 'international' orientiert, zog diesen Relativismus dem Realismus der analytischen Philosophen vor. Paradigmen kommen und gehen mit Weltbildern, hier liegen die Gruende fuer den Erfolg von Kuhns Buch und fuer den schwindenden Einfluss der analytischen Philosophie. Boghossians Weltbild kommt offenbar einem idealisierten Physiklabor nahe: Daten und Argumente werden nuechtern ausgewertet und, wenn falsch, im Angesicht der Wahrheit sofort verworfen. Doch leider funktionieren nicht einmal die meisten realen Laboratorien wie das Ideal des analytischen Philosophen, wie jeder bestaetigen wird, der einmal in einem Labor gearbeitet hat. Charisma und Intrigen entscheiden in mindestens dem gleichen Masse ueber den Erfolg von Forschungsprojekten wie Argumente. Ist es folglich nicht sinnvoll, die Ablaeufe in realen Laboratorien zunaechst zu studieren, bevor wir das Labor zum Modell einer idealen Welt stilisieren?
II.
Mit der Entzauberung und Relativierung wissenschaftlicher Entdeckungen sind einige Naturwissenschaftler nicht einverstanden. Das haben, im Rahmen der 'Science Wars' der Biologe Paul Gross und der Mathematiker Norman Levitt durch ihr Buch 'Higher Superstition: The Academic Left and its Quarrels with Science' (Baltimore & London, 1994) deutlich gemacht. Konkurrierende Weltbilder, die alle in sich schluessig sein koennen, gibt es fuer sie nicht, sondern nur eine reale, objektive Wirklichkeit, der man mit Experiment und Logik auf die Schliche kommt. Wissenschaftlicher Fortschritt ist in ihren Augen ein zielgerichteter Prozess, den sie mit "Aufklaerung" gleichsetzen, und der im westlichen Denken der Gegenwart zu seiner bisher hoechsten Ausformung gefunden hat. Dass Erkenntnisse ueber die Welt "sozial konstruiert" sein koennten, unter bestimmten historischen Umstaenden von Menschen geschaffen, wie die "akademische Linke" behaupte, die sie sich als Gegner auserkoren haben und der sie vor allem "Postmodernisten", "Soziale Konstruktivisten" und "Feministinnen" zurechnen - alle ueber einen Kamm geschoren - ist mit dieser Einstellung unvereinbar. Alan Sokal laedt in einem auf seinen 'Jux' folgenden Artikel dann auch jeden ein, der an die soziale Konstruiertheit der Wirklichkeit glaube, es doch einfach auf ein Experiment ankommen zu lassen und aus einem Hochhausfenster zu springen. Das ist zwar lustig, am Ende aber doch nur platte Polemik. Man kann das, was wir als Schwerkraft verstehen und mathematisch beschreiben, auch voellig schluessig mit anderen Erklaerungen bedenken. Schliesslich haben sich vor Newtons Tagen die Menschen in Europa auch nicht in grosser Zahl aus Turmfenstern gestuerzt, nur weil sie keine Ahnung von der Gravitationskonstante g hatten. Und dass Newton, wie uebrigens auch der deutsche Astronom Kepler, ein tiefreligioeser Mystiker war und auch gerne mit Alchimie experimentiert hat, finden natuerlich weder Sokal, noch Gross und Levitt erwaehnenswert. Man moechte Sokal im Gegenzug auffordern, doch einmal eine kleine Umfrage in einer x-beliebigen Fussgaengerzone der westlichen Welt zu veranstalten und die "aufgeklaerten" Passanten nach der Schwerkraft und den Newtonschen Formeln zu fragen. Jeden der dann nicht Bescheid weiss, darf er dazu auffordern an seinem kleinem Experiment teilzunehmen.
Die gleiche Borniertheit wie Sokal, Gross und Levitt, legt auch Boghossian in seinem Essay an den Tag. Er entwickelt seine Argumente anhand des Vergleichs zweier Erklaerungen fuer das Auftauchen des Menschen auf dem amerikanischen Kontinent: dem Ursprungsmythos der Zuni-Indianer und dem letzten Stand archaeologischer Erkenntnis. Diese Gegenueberstellung hat zunaechst effektiv nichts mit Wissenschaftssoziologie zu tun. Es ist zwar denkbar, ethnografische Methoden anzuwenden um die Entwicklung archaeologischer Theorien zu erklaeren, niemand anders als ein analytischer Philosoph jedoch wuerde Mythos und Theorie als 'Behauptungen' miteinander konkurrieren lassen, die nur entweder 'wahr' oder 'falsch' mit Bezug auf eine 'objektive Realitaet' sein koennen. Meine Grossmutter, deren Verwurzelung im westlichen Weltbild der Korrumpierung durch postmodernen Relativismus voellig unverdaechtig sein muss, haette mich an dieser Stelle davor gewarnt, Aepfel mit Birnen zu vergleichen.
Doch missachten wir ausnahmsweise den Rat meiner Grossmutter und folgen stattdessen der Spur, die Boghossian fuer uns ausgelegt hat. Ethnografische Methoden, das heisst die gruendliche Befragung und Beobachtung derjenigen die eine Theorie entwickeln, wuerden sich naemlich als sehr nuetzlich erweisen wenn wir herausfinden wollten, warum sich die Archaeologen in Boghossians Beispiel angesichts der unueberschaubaren Vielfalt ausgegrabener Gegenstaende unter theoretisch unendlich vielen Interpretationsmoeglichkeiten fuer eine einzige entscheiden. Dabei koennten dann auch die Ursprungsmythen der Indianer hilfreich sein. Gruendlich ausgewertet und nicht von vorneherein als "interessante Geschichten" abgetan, koennten sie mit dem 'Beweismaterial' verglichen werden und so vielleicht die entscheidenden Hinweise liefern. Aus Geschichten wird Geschichte, und das ist letztlich das wofuer sich Archaeologen interessieren. Wer aber wird im Rahmen dieses natuerlich voellig konstruierten Fallbeispieles ernsthaft behaupten wollen, dass die politischen Einstellungen der Forscher und ihre sozialen Kontakte mit Indianern, neben ihren Schwierigkeiten, den naechsten Antrag auf Foerderung bei einer Regierungsbehoerde zu begruenden, keinen Einfluss auf ihre Rekonstruktionen der Fruehgeschichte Amerikas haben koennten, da diese sich schliesslich unmissverstaendlich und eindeutig aus den 'Fakten' ergaeben? Nur jemand der bestreitet, dass Wissenschaftler auch nur Menschen sind.
Eindeutigkeit der 'Fakten' kann in den meisten Faellen nur nachtraeglich postuliert werden. Wie sollten wir uns sonst erklaeren, dass Menschen ueber Generationen angesichts der eindeutigen Faktenlage dem 'Irrglauben' angehangen haben, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei, oder dass auch eminente Biologen lange nicht glauben wollten, dass Menschen und Schimpansen die gleichen Vorfahren haben und letztlich ueber eine Kette zufaelliger Mutationen von Einzellern abstammen. Letztere Einsicht ist uebrigens noch gar nicht so alt: Die Darwinsche Theorie der natuerlichen Auslese in der Evolution des Lebens auf der Erde ist erst seit der Mitte dieses Jahrhunderts unangefochtenes biologisches Credo. Mit letzter Sicherheit im Experiment bewiesen werden kann sie allerdings bis heute nicht. Sollten wir, Sokals Logik folgend, dann lieber nicht an sie glauben? Der schmerzhafte und langwierige historische Prozess, der Darwin unter dem Eindruck diverser hoechst unwissenschaftlicher Einfluesse zur Formulierung seiner Theorien fuehrte, kann dagegen mit all seinen amuesanten Wendungen, dank des viktorianischen Naturalisten Eifer beim Tagebuchschreiben und dank hervorragender, historisch und soziologisch informierter Biographen, in allen farbenfrohen Details nachvollzogen werden. Der aufgeklaerte Leser kann sich dann selbst ein Urteil bilden.
III.
Wissenschaftssoziologen und -historiker, ob Postmoderne, Feministinnen oder Konstruktivisten, interessieren sich fuer 'science in the making', die Entstehungsprozesse wissenschaftlicher Erkenntnis. Kaum aber wollen sie der Irrationalitaet Tuer und Tor oeffnen. Denn wenn sie bei ihrem Unternehmen die Fakten und Beobachtungen ausser acht liessen, die Naturwissenschaftler durch ihre Theorien zu interpretieren versuchen, sie wuerden auch von ihren Kollegen nicht ernstgenommen. Die meisten Wissenschaftler, die Objekte einer ethnografischen Studie werden, fuehlen sich auch tatsaechlich eher geschmeichelt als beleidigt, und stellen fest, dass die Ergebnisse der Ethnografen sich mit dem decken, was sie in ihrem Alltag erfahren aber nicht in den Lehrbuechern lesen. Sokal, Boghossian und ihre Mitstreiter dagegen wollen den Alltag, die politischen Dispute und die sozialen Aspekte, die in kognitive Prozesse einfliessen, aus der Geschichte streichen und nur bereinigte Lehrbuchfakten und vermeintlich unabwendbar aus ihnen folgende Theorien und Formeln stehen lassen. Damit bestaetigen sie im Prinzip, was ihre selbstgewaehlten Gegner anhand zahlreicher Episoden in der Wissenschaftsgeschichte zu belegen suchen: Vermeintlich unpolitische Thesen ueber 'Natur' wurden und werden aufgestellt, um fuer bestimmte politische Positionen zu argumentieren, sei es die 'Natur des Negers' beim Aufbau imperialistischer Reiche oder die 'Natur der Frau' in Debatten ueber Reproduktionstechnologien. Dass es sich hierbei nicht um echte Wissenschaft, sondern nur um ideologisch verbraemten Missbrauch handele, waere eine billige Ausflucht. Rassismus gehoerte selbstverstaendlich zum Weltbild vieler Biologen um die Jahrhundertwende und ist von zum Teil bahnbrechenden Erkenntnissen nicht zu trennen. Die Rassenhygiene war, etwas zugespitzt formuliert, fuer die Biologen und Mediziner des Kaiserreiches was fuer viele die Krebsforschung heute ist: eine Moeglichkeit ihre Grundlagenforschung politisch zu legitimieren. Auch die Menschenversuche von KZ-Aerzten gehorchten meist strenger wissenschaftlicher Methodik. Die Herleitung von physikalischen Formeln, von Newton bis zur Quantenphysik, wurde dagegen haeufig mit viel Metaphysik gewuerzt. Die metaphysischen Implikationen waren sogar eine entscheidende Triebkraft fuer Newton. All das ist nachzulesen in den Aufsaetzen und Buechern 'relativistischer' Wissenschaftshistoriker, in der Regel minutioes anhand von Originalschriften, Tagebucheintraegen, Briefen und Interviews belegt. Aber davon wollen unsere Freunde des Realismus nichts wissen, denn es koennte den Geniekult stoeren, der in der Wissenschaft noch oft zur Selbstdefinition gehoert und zu dessen Entzauberung die Wissenschaftssoziologie und - geschichte beitragen koennte. Wenn wir tatsaechlich Ursprungsmythen vergleichen wollen, dann sollten wir die von Wissenschaftlern denen der Zuni-Indianer gegenueberstellen: Der Traum des Chemikers Kekule von den zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen, von dem er sagte, dass er ihn auf die Spur der Benzolringstruktur gefuehrt habe, ist auch eine "interessante Geschichte" und steht der von der unterirdischen Geisterwelt der Zuni durchaus nahe. Nun moechte ich mir aber noch noch ein wenig Spekulation ueber Sokals und Boghossians hintergruendige Motive fuer ihre Angriffe erlauben. Es kostet viel Geld ein Physiklabor zu betreiben, und diese Ausgabe will gut begruendet sein. Das Gehalt eines analytischen Philosophen will auch bezahlt sein und die an den Naturwissenschaften interessierten Kulturwissenschaftler draengen sich um die gleichen Fleischtoepfe. Der Leser moege gerne weiter spekulieren. Zu allem Unglueck fuer unsere 'Realisten' sind es beileibe nicht nur "postmoderne Kulturwissenschaftler", die schwierige Fragen an die Naturwissenschaften richten. Kritik erhebt sich ueberall, und oft scheinen die Experten ueberfordert, gerade weil die einfache Unterscheidung zwischen 'wahr' und 'falsch' nicht moeglich ist. Wie sicher ist die praktische Nutzung der Kernenergie? Was bedeuten die statistischen Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, mit denen uns unabhaengige Biologen im Zusammenhang mit dem Rinderwahnsinn beruhigen wollen? Ist es sinnvoll, Millionen in Forschungsprojekte zu investieren die vermeintlich den Krebs besiegen helfen sollen, aber doch gemessen am Aufwand verhaeltnismaessig kleine Fruechte tragen, und das angesichts einer steigenden Zahl von Tuberkuloseopfern und Leprakranken in anderen Teilen der Welt, denen so viel billiger geholfen werden koennte? Sogar in den Laboren stellen zahlreiche frustrierte Nachwuchswissenschaftler sich die Sinnfrage. Viele geben die Wissenschaft auf und einige steigen schliesslich zu Laborleitern auf, traeumen vom Nobelpreis, vergessen ihre Zweifel und konstruieren sich ihren eigenen Ursprungsmythos. Sind die alle einmal von der "akademischen Linken" aufgehetzt worden? Nicht die Bohne. Allein die Idee von 'Aufklaerung', der Gross und Levitt, Sokal und Boghossian anhaengen, ist die einer kastrierten Aufklaerung, einer Entzauberung die vor den Elfenbeintuermen der Naturwissenschaften haltmacht. Beim Auszug aus der weitverbreiteten naturwissenschaftlichen Unmuendigkeit kann uns eine methodische und historisch wohlinformierte Wissenschaftskritik nur helfen. Wenn Relativismus heisst, dass ich zunaechst einmal rational nachvollziehbare Gruende fuer die Handlungen und Argumente meines Kontrahenten annehme, der an etwas glaubt was sich nicht mit meinen gegenwaertigen Weltanschauungen deckt, ohne dass ich ihm dann notwendigerweise zustimme, so will ich mich gerne einen Relativisten schimpfen lassen. Man koennte es auch 'aus der Geschichte lernen' nennen.
Carsten Timmermann
(1997, Public Domain)
Carsten Timmermann
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