Das nachfolgende Interview mit Hans-Ulrich Wehler fuehrte Dr.Hermann Rudolph, Herausgeber des Tagesspiegels, in Berlin. Wir entnehmen es dem Tagesspiegel vom 8. Dezember 1998 mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
TAGESSPIEGEL: Unter den deutschen Historikern ist eine neue heftige Debatte ausgebrochen. Ausgelöst wurde sie von der Entdeckung einer Reihe von jüngeren Historikern, daß die Historiker Theodor Schieder, Werner Conze und Otto Brunner, alles Leuchten der deutschen Nachkriegsgeschichtsschreibung und Lehrer einer ganzen Generation führender Historiker, während des Dritten Reichs Gutachten und Schriften verfaßt haben, die dokumentieren, daß sie dessen Gedanken ziemlich nahegestanden haben. Herr Professor Wehler, Sie sind Schüler von Theodor Schieder. Haben diese Enthüllungen Sie überrascht?
WEHLER: Ja, sie haben mich überrascht. Denn ich habe ihn natürlich gelegentlich gefragt, wie das denn in den dreißiger und frühen vierziger Jahren gewesen sei. Aber da war kein einziges Wort aus ihm herauszubekommen. Er schwieg eisern. Was ich aus jener Zeit von ihm gelesen hatte, empfand ich nicht als schlimm, nur an manchen Stellen zeitabhängig.
TAGESSPIEGEL: Waren die Schieders, Conzes, Brunners in ihren jungen Jahren, in den 30er Jahren Nationalsozialisten?
WEHLER: Schieder und Conze gehen im Mai 1937 in die Partei. Doch ich würde das gar nicht für ausschlaggebend halten. Alle diese deutschen Universitätshistoriker sind ja damals ohnedies in unserem Verständnis "rechts": sie sind für die Revision des Versailler Systems, die Wiederbewaffnung, für Großdeutschland. Sie kultivieren den Reichsmythos, und viele teilen auch die moderate Form des Antisemitismus, den man Honoratioren-Antisemitismus nennen kann. Interessanter ist es, daß es zwischen der Wissenschaft, die sie betrieben, der sogenannten Volksgeschichte, und dem Nationalsozialismus eine Überlappungszone gibt, ohne daß man mit allen seinen Zielen übereinstimmen müßte. Daß Schieder und viele seiner Kollegen nach einer gewissen Zeit der Zurückhaltung in die Partei gehen, kann man als Opportunismus deuten.
TAGESSPIEGEL: Begriffe wie Volk und Volksgeschichte wirken von heute aus gesehen, höchst schillernd, auch abgetan. Irgendwo bei Brecht heißt es einmal: wer statt "Volk" "Bevölkerung" sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.
WEHLER: "Volksgeschichte" meint eine neue Strömung, die das Volk zum eigentlichen Subjekt der Geschichte machte. Das hat den jungen Historikern damals nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der alten Ordnung, "auf dem Tiefpunkt der nationalen Existenz", wie man sagte, durch die Hinwendung zum Volk eine gewisse Kontinuität versprochen. Das war etwas Neues, auch methodisch, weil es in der Fühlungnahme mit der Soziologie und Linguistik, der Demographie und Geographie geschah, und insofern ist diese Geschichte auch der Vorläufer der Sozialgeschichte, die nach 1945 die Erneuerung der Geschichtswissenschaft mitbestimmt - unter der Stabführung eben von Schieder, Conze und Brunner.
TAGESSPIEGEL: Volksgeschichte war also damals keine bemooste Angelegenheit, sondern etwas durchaus Modernes?
WEHLER: Ja, die Mandarine der Zunft betrieben damals eine ziemlich konventionelle Nationalstaats-Geschichte, immer fixiert auf das Bismarck-Reich, und da war diese Volksgeschichte auch ein Protestverhalten. Das entsprang dem Selbstbewußtsein dieser jungen Leute. Und da war natürlich auch das Verführerische, Neue. Sie haben geglaubt, wenn wir im Dienste der großen Aufgabe arbeiten, dem deutschen Volk wieder aufzuhelfen mit unserer Wissenschaft, dann sind wir die Speerspitze des Fachs. Aber aus dem zunächst eher sozialromantisch begriffenen Volk wurde in den dreißiger Jahren schon das rassistisch verfaßte Volk, und das ist die Brücke zum Nationalsozialismus.
TAGESSPIEGEL: Was erschreckt, ist ja, daß es nicht bei der Geschichte bleibt. Schieder, Conze und Brunner haben auch Gutachten verfaßt, die große Bevölkerungsverschiebungen befürworten - mit einem Vokabular wie aus dem "Wörterbuch des Unmenschen".
WEHLER: Ich würde nicht soweit gehen wie manche Kritiker, die unterstellen, daß sie mit diesem Gutachten Auschwitz den Weg bereitet haben. Das lag außerhalb ihres Plausibilitätshorizontes. Aber sie haben nicht einmal gefragt, was mit den Hunderttausenden von umgesiedelten Polen geschehen solle. Und von der notwendigen "Entjudung der Städte" ist auch die Rede. Moralisch läßt sich das nur so beurteilen, daß es da nicht nur eine enge symbiotische oder osmotische Beziehung zwischen der völkischen Volksgeschichte und den nationalsozialistischen Ideen gab, sondern auch eine fatale Handlungsbereitschaft, so daß es im nachhinein schon etwas künstlich anmuten würde, wenn man da noch fein säuberlich zwischen Beratern und Akteuren auseinanderdividieren wollte.
TAGESSPIEGEL: Diese jungen Historiker wollten offenbar handeln, und sie haben mitgehandelt. Haben sie sich vom Aktivismus der Nationalsozialisten mitreißen lassen?
WEHLER: Schlimmer noch: Die Volksgeschichte wollte eben im Sinne des Nationalsozialismus eine "kämpfende Wissenschaft" sein. Und in dem Augenblick, als es die Möglichkeit gab - keiner zwang sie ja dazu -, übernahmen diese jungen Leute in einer Art von vorauseilendem Gehorsam die Politikberatung.
TAGESSPIEGEL: Wie begreifen Sie diesen Sündenfall, dieses Umschlagen in ein menschenverachtendes Planen? Begreifen Sie es überhaupt?
WEHLER: Wir reden über Männer, alle zwischen 1908 und 1910 geboren, promoviert Anfang der 30er Jahre, eine politische Generation aus dem Bildungsbürgertum, den bündischen Jugendverbänden. Sie sind geprägt von dem Eindruck der Schmach der Niederlage. In ihnen steckt tief der Stachel eines historischen Unrechts, das revidiert werden müsse - vor allem, denn ihr Interesse gilt ja dem Osten, müsse man Westpreußen und Posen, die man an den entstandenen polnischen Staat hatte abtreten müssen, zurückgewinnen. Zur wissenschaftlichen Arbeit zu diesen Themen angeregt hat sie übrigens Hans Rothfels in Königsberg - ein nationalkonservativer Historiker jüdischer Herkunft, aber ein leidenschaftlicher Verfechter deutschen Volkstums und deutscher Kulturmission im Osten. Und wenn man im Sinne der "Volksgeschichte" auf die Überlegenheit des deutschen Volkes, auf den Sieg völkischer Ideen setzte, geriet man in eine Grauzone, in der die gröberen und rabiateren Ideen der Nationalsozialisten eine schlimme Anziehungskraft bekamen, die schließlich zu den erwähnten Gutachten führte. Die Sensibilität für historische Strukturen und menschliches Leben, die Historikern doch antrainiert wird, hat sie davor nicht bewahrt.
TAGESSPIEGEL: Das andere Problem ist das Beschweigen nach '45. Hat man sich in die Wissenschaft gestürzt, um zu vergessen, was man getrieben hatte?
WEHLER: Ich glaube, daß die innere Hemmung sehr groß gewesen ist, denn diesen Männern war ja nach '45 präsent, was sie wenige Jahre vorher noch geschrieben und gefordert hatten. Auf der anderen Seite sind das sehr intelligente Leute, die sich nach dem Ende des Krieges auch keinen Illusionen darüber hingaben, was der Nationalsozialismus namentlich in dem von ihnen erforschten Osteuropa angerichtet hatte. Ich glaube, dieses eiserne Schweigen kommt aus einer Fusion von Erinnerung, Hemmung und Scham, mitgemacht zu haben. Und je größer der erfolgreiche Lebensabschnitt wurde - und sie haben ja nach 1945 ein eindrucksvolles Werk geschaffen -, desto mehr schien die Vergangenheit sozusagen zu verschwinden. Als '68 Splitter auftauchten, kritische Fragen nach dem, was sie in Königsberg getan hatten, da haben sie eisern gemauert und das sozusagen für die Angriffe der Linken gehalten.
TAGESSPIEGEL: Da stellt sich ja nun die Frage an Ihre Generation, Herr Wehler. Sie alle legten Wert darauf, besonders kritisch zu sein. Weshalb haben Sie das kritische Messer nicht bei Ihren Lehrern angesetzt? Weshalb ist dieser Vatermord ausgeblieben?
WEHLER: Ich habe, als Schieder 1966 Vorsitzender des Historikerverbandes wurde und wir alle Attacken aus der DDR erwarteten, alles das gelesen, was, wie ich glaubte, Schieder bis '45 veröffentlicht hatte. Und ich konnte damals nichts finden und habe die anderen, die in Köln waren, Wolfgang Mommsen, Lothar Gall, Wolfgang Berding und die anderen, beruhigt. Ähnlich verhielt es sich, als Werner Conze Vorsitzender des Verbandes wurde. Erst die Materialien, die junge Kollegen wie Peter Schöttler, Ingo Haar und Götz Aly aus den seit 1989/90 zugänglichen Archiven zutage gebracht haben, haben uns die Augen darüber geöffnet, wie weit doch der Konsens und die Übereinstimmung mit den Ideen der Nationalsozialisten zur Volkstumspolitik gegangen ist - bis hin zu rabiaten Formen der Vertreibung, auch der Ausmerzung und Vernichtung.
TAGESSPIEGEL: Die Historiker, die diese Äußerungen gefunden haben, haben daraus nicht nur ein Scherbengericht über diese ältere Generation gemacht, sondern auch Vorwürfe gegen Ihre Generation, Ihre Schüler geknüpft. Es geht sie ja ganz un mittelbar an, auch als Wissenschaftler, die auf deren Schultern stehen.
WEHLER: Die Kritiker, überwiegend jüngere Historiker, argumentieren: Diese Männer haben auf die braune Karte gesetzt, sie sind sozusagen vom Nationalsozialismus kontaminiert, und sie bleiben es. Daraus folgt die Konsequenz: Die angeblich so progressive, innovatorische Sozialgeschichte komme aus diesem Umfeld, also aus einer "braunen Wurzel". Nun sehe ich einmal ganz davon ab, daß die Einflüsse, die die meisten von uns zur Sozialgeschichte geführt haben, anderswoher kommen - von Max Weber und Marx und dann von dem emigrierten Hans Rosenberg. Doch ist es richtig, daß Schieder und Conze uns und diese Entwicklung gefördert, auf keinen Fall blockiert haben. Das Entscheidende bei der jetzt laufenden Debatte ist aber, glaube ich, ob man bereit ist, diesen Männern, die bei Kriegsende Mitte Dreißig waren, so alt wie unsere jetzigen Doktoranden, zubilligt, einen Lernprozeß durchlaufen zu haben: also mit überzeugenden Arbeiten wiedergutzumachen, was sie damals angerichtet hatten.
TAGESSPIEGEL: Halten Sie das für richtig?
WEHLER: Ich tue das. Aber das stützt sich auf die persönlichen Erfahrungen mit Schieder und Conze. Nein, nicht allein. Es ist eins, nachzuweisen: wie sehr diese Männer involviert gewesen sind in ihrer Volksgeschichte und von ihrer Maxime der kämpfenden Wissenschaft vorangetrieben worden sind. Etwas anderes ist die Frage, ob ihre Denkfiguren und Interpretationen nach '45 angebräunt geblieben sind.
TAGESSPIEGEL: Was für Elemente der Kontinuität und wieviel Bruch sehen Sie?
WEHLER: Bei Schieder ist der Wandel meiner Meinung nach nachzuweisen. Er hat seine Interessen an der deutschen Nationalbewegung und Nationalitätenpolitik transformiert in eine vergleichende Nationalismusforschung, und ich kann nicht finden, daß in seine Arbeiten und die, die er angeregt hat, völkische und rassistische Prämissen eingeflossen sind. Bei Conze dauert der Prozeß des Wandels länger.
TAGESSPIEGEL: Wird das Werk, das diese Historiker nach dem Krieg vorgelegt haben, relativiert durch das, was wir jetzt wissen?
WEHLER: Das ist das eigentliche Problem. Wir müssen ein neues, historisch abwägendes Urteil auch über diese Historiker fällen, die zwischen der Mitte der fünfziger und der Mitte der achtziger Jahre die einflußreichsten Figuren in der deutschen Geschichtswissenschaft gewesen sind. Man kommt einfach nicht daran vorbei, daß sie einen schrecklichen Irrweg gegangen sind.
TAGESSPIEGEL: Also kein Vatermord?
WEHLER: Man muß zuerst versuchen zu begreifen - und dabei die Gefühle, die man empfindet, wenn man diese Männer gekannt hat, einmal in den Kühlschrank tun -, wie sie auf die braune Karte gesetzt und dann vierzig Jahre lang mit großer Intensität jeden falschen Zungenschlag vermieden haben. Denn was immer Schieder und Co nze danach betrieben haben: Man kann es verstehen als Versuch, das zu korrigieren, was sie als junge Leute gemacht haben. Ich bin aber auch deshalb gegen eine generelle Verurteilung, weil bei den jüngeren, manchmal sehr schnell moralisierenden Kritikern eine Art von toleranzfreiem Purismus im Spiel ist. Der ist mir auch deshalb dubios, weil es ja auch andere Beispiele für zerrissene Lebenswege gibt. Etwa die berühmte Gruppe der englischen marxistischen Historiker, alle Zelebritäten ihrer Fächer, alle sehr anregend, alle seit etwa '37 überzeugte Marxisten. Fast alle sind nach dem Ungarnaufstand 1956 ausgetreten, bis auf Hobsbawm. Soll man ihnen nun wirklich die Zeit ihres überzeugten Marxismus vorwerfen und sagen: alles was ihr damals an Anregendem für die Arbeitergeschichte, für die Sozialgeschichte, für die Neuinterpretation der englischen Geschichte geleistet habt, ist auch kontaminiert, weil ihr einem Ideensystem gefolgt seid, das in Gestalt des Staatskommunismus zum Massenmord an Millionen geführt hat? Das ist ja bereits die rechte Drohkeule. Dasselbe Problem haben wir natürlich mit den Osteuropäern und insbesondere den Ostdeutschen, die in ihren jüngeren Jahren auf den Marxismus gesetzt haben. Wenn man ihnen zubilligt, lernfähig zu sein, muß man 35jährigen Männern wie Schieder und Conze das auch zubilligen.
TAGESSPIEGEL: Zurück zu Ihrer Generation. Haben Sie das Gefühl, von Ihren Lehrern getäuscht worden oder bewußt im Unklaren gelassen zu sein?
WEHLER: Gut, es gibt unstreitig das Gefühl der Enttäuschung. Es hat keine Selbstkritik gegeben. Es ist nicht dazu gekommen, trotz der persönlichen Nähe, daß bei irgendeiner Gelegenheit, zu später Abendstunde oder nach einem gemeinsamen Essen, einmal klipp und klar gesagt worden ist: wenn ich daran zurückdenke, was wir damals geschrieben und getan haben - wie können wir froh sein, daß wir überlebt haben und jetzt noch weiter machen können. Dieses Gefühl der Enttäuschung wird man nicht mehr los.
HANS-ULRICH WEHLER, Bielefelder Historiker, Autor der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" und zur Zeit Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin, plädiert für Verständnis gegenüber der Generation seiner Lehrer. Mit ihm sprach Hermann Rudolph.
TSP NR. 16541 VOM 08.12.1998 SEITE 025
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