Grundlegung, Kontext und Erfolg der Geopolitik vor 1933
Michael Fahlbusch, Basel, z.Zt. Athen

Thesenpapier vorgelegt zur 39. Jahrestagung der Gesellschaft fuer Geistesgeschichte am 30. Oktober bis 1. November 1997 in Potsdam

Die folgenden Ausfuehrungen basieren auf den Ergebnissen meiner Dissertation ueber die "Stiftung fuer deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" in Leipzig und dem in diesem Sommer am Seminar fuer Historische Geographie in Bonn beendeten Forschungsprojektes der DFG ueber "Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften in Deutschland von 1931-1955. Eine institutionsgeschichtliche Analyse einer interdisziplinaeren Forschungseinrichtung im Totalitarismus und der fruehen Nachkriegszeit", das naechstes Jahr veroeffentlicht wird.

Die wissenschaftshistorische Diskussion ueber die Rolle der Geopolitik konzentrierte sich in der Vergangenheit auf den geozentrischen Diskurs. Vernachlaessigt wurde dabei, dass der ethnozentrische Diskurs, der die Volkstumsforschung und -politik im Deutschen Reich bestimmte, bedeutender war, als bisher angenommen wurde. Beiden Diskursen, dem ethnozentrischen und dem geozentrischen, gemeinsam ist die Verwendung des Denkmotivs der geographischen Lage. Sie bilden zwei Seiten ein und derselben Medaille: die Unterstuetzung einer hegemonialen Macht- und Kulturpolitik (Irredentapolitik).

1. Die ethnozentrische Geopolitik wie sie in leicht veraenderter Form bis heute noch existiert, umfasst drei Ziele:

a) Der auf Sprache und Kultur fixierte ethnozentrische Diskurs der Geopolitik laesst sich mit der Theorie des "deutschen Volks- und Kulturbodens", in verkuerzter Form unter dem Schlagwort "Volk und Raum" definieren. Die Begriffe "Volkheit", "Volksboden" und "Volkstum" beanspruchen eine neue Position gegenueber dem Verstaendnis der traditionellen Staats- und Geisteswissenschaften. Die Prioritaet ethnischer Grenzen gegenueber den Staatsgrenzen hat zum Ziel, den etatistischen Nationalismus der westlichen Siegermaechte nach dem Ersten Weltkrieg in Frage zu stellen.

b) Eine Revision der Versailler Vertraege im Rahmen des Deutschlands in den Grenzen des Bismarckschen Reiches und allenfalls die Einbindung Oesterreichs wird als als rueckstaendig empfunden. Die ethnozentrische Geopolitik orientiert sich statt dessen an den Vordenkern grossdeutscher Reichsutopien (Arthur Moeller van den Bruck und Max Hildebert Boehm). c) Die ethnozentrische Geopolitik umfasst den Reichsgedanken unter Karl dem Grossen und die damit verbundene mythische Dimension einer deutschen Nation. Sie findet als identitaetsstiftendes gesamtdeutsches Ziel Eingang in die an der Landeskunde beteiligten Disziplinen oder der "Kulturraumforschung" der 20er Jahre. In diesem Zusammenhang wird der Raum- und Volksbegriff, der dem "Volks- und Kulturboden" zugrunde liegt, als Konstrukt uebernommen: 1. Das "Volk" oder des "Stamms", der ueber Jahrhunderte sich seinen Raum eroberte und halten konnte. 2. Das "Volk" als natuerlich erscheinender Gegenbegriff zur liberalen franzoesischen Nationsvorstellung. 3. Die ethnisch homogenen Raumstrukturen der zum deutschen Volk gehoerigen blutsmaessigen, rassischen Gemeinschaft. Der homogene Volks- oder Sprachraum impliziert dabei einen interessanten Aspekt, auf den Hans Dieter Bahr und Max Weber aufmerksam machten: naemlich die Aufhebung des Inzesttabus, welche mit der Rassereinheit verbunden ist. (H.D. Bahr 1990, S. 18f. Vgl. zu den Implikationen auch M. Weber 51972.)

2. Die Volkstumsforschung stellt im Gegensatz zu der von geodeterministischen Gesichtspunkten getragenen Geopolitik die ethnographischen Kriterien der Herkunft, der Sprache und des Blutes in den Vordergrund. Nationalitaet wird nicht durch die dem ius soli unterworfenen Kriterien definiert, sondern durch die dem ius sanguinis zugeschriebenen Merkmale bewertet. Demgemaess werden die Disziplinen Volkstumsgeographie, Volksgeschichte und Volkskunde im Gefuege der Geopolitik aufgewertet. Die in der Weimarer Republik unter hohem finanziellen Aufwand eingeleiteten Forschungsprogramme sind das "Handwoerterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums" und der "Deutsche Volkskunde Atlas". Beide Grossprojekte der Weimarer Republik sind den Topoi der Volks- und Kulturbodentheorie verpflichet, jenem von voelkisch orientierten Wissenschaftlern ausformulierten Paradigma, welches ihre Zentrale in der "Stiftung fuer deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" in Leipzig findet. Wider Erwarten bestreiten dieses Paradigma vorerst nicht etwa Historiker, sondern zur Hauptsache Geographen, Landeskundler und Volkstumspolitiker in den Grenzgebieten des Deutschen Reiches und Oesterreichs (Koenigsberg, Breslau, Leipzig, Bonn, Innsbruck, Graz und Wien). Im Laufe der folgenden zehn Jahre setzt sich dieses Forschungsparadigma aber durch und in dem Masse, wie es Anklang bei Historikern findet, wird es auch zur fuehrenden neuen Richtung innerhalb der Geschichtswissenschaft. Dennoch gehen von dem wegweisenden Geopolitiker Karl Haushofer 1932 warnende Hinweise aus, die verdeutlichen, dass in der ethnozentrischen Geopolitik aufgrund ihrer ideologischen und schulebildenden Macht eine Konkurrenz zur geozentrischen Version entsteht. Haushofer bezeichnet Max Hildebert Boehm nach dem Erscheinen dessen Buches "Das eigenstaendige Volk" als "praeceptor Germaniae" (vgl. Hans-Adolf Jacobsen 1979, Ingo Haar 1997, Heidi Gansohr-Meinel 1993, Willi Oberkrome 1993).

3. Ansaetze des ethnozentrischen Paradigmas gehen zurueck ins Kaiserreich: Wichtige Personen, die diesen Ansatz vertraten, waren Karl Lamprecht, Friedrich Ratzel, Gustaf Kosinna, Albrecht Penck, Paul Langhans und Dietrich Schaefer. Dieser Kreis stand bekanntlich der Zeitschrift "Deutsche Erde" des Alldeutschen Verbandes nahe oder gehoerte ihrem Herausgeberkreis unmittelbar an. Die kulturpolitische Entwicklung seit der Jahrhundertwende wird in den letzten Jahren in der Forschung mehr beachtet (vgl. Comparativ 1992, Ruediger v. Bruch 1992, Roger Chickering 1993, Aram Mattioli 1997, Michael Fahlbusch 1997). Angesichts des Ersten Weltkriegs setzt sich jedoch der geozentrisch orientierte Diskurs durch. Erst im Rahmen der Friedenszieldiskussionen von 1917/18 werden durch die deutsche Armeefuehrung an der Westfront in Belgien, in Suedtirol (u.a. durch Michael Mayr und den Tiroler Heimatbund), im Osten (durch Theodor Schiemann und Otto Hoetzsch) sowie im Suedosten (durch Paul Traeger und Harold Steinacker) ethnographische Studien erarbeitet, die wegweisend fuer die kuenftige Volkstumsforschung sind (vgl. Gabriele Camphausen 1989, Franziska Wein 1992, Gisela Framke 1987, Fritz Fischer 1964 und Klaus Schwabe 1969).

4. Unmittelbar nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg setzen Volkstumsforscher ihre Mittel im Abstimmungskampf in den abzutretenden Grenzgebieten ein: Albert Brackmann untersucht im Bezirk Allenstein die masurische Minderheit auf ihr deutschfreundliches Abstimmungsverhalten hin, in Nordschleswig sind die Pfarrer Muuss und Johannes Schmidt-Wodder aktiv; Franz Thedieck von der Abwehr des rheinischen Separatismus in Koeln unterhaelt den Kontakt zur deutschen Minderheit in Belgien (Eupen-Malmedy). In Suedkaernten engagieren sich Hans Steinacher und Martin Wutte fuer den Wiederanschluss an Oesterreich. In Schlesien beteiligen sich Manfred Laubert, Wilhelm Volz, Karl Christian Loesch und Hans Steinacher aktiv an den Abstimmungskampagnen. Albrecht Penck arbeitet ueber die Deutschen im westlichen Polen, Max Hildebert Boehm ist im Baltikum taetig. Diese Volkstumsforscher finden sich schliesslich im Umkreis der 1922 gegruendeten "Stiftung fuer deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" in Leipzig wieder zusammen; spaeter, 1925, auch in der "Deutschen Akademie" in Muenchen. Sie begruenden das ethnozentrische, gesamtdeutsche Forschungsparadigma in der Weimarer Republik. Auffaellig fuer die 1920er Jahre ist, dass in beiden Institutionen ethnozentrische und geozentrische Geopolitiker erstmalig eng zusammenarbeiten. Diese Kooperation schlaegt sich in zahlreichen Publikationen nieder, die ueberwiegend noch von den Verbaenden "Deutscher Schutzbund" und "Verein fuer das Deutschtum im Ausland" herausgegeben werden.

5. Seit 1930 erfolgt die Durchsetzung des ethnozentrischen Paradigmas an den Universitaeten aufgrund tiefgreifender personaler und institutioneller Umwaelzungen, denen einerseits Wilhelm Volz von der "Stiftung fuer deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" in Leipzig, andererseits bei den Historikern 1935 Friedrich Meinecke in seiner Funktion als Leiter der "Historischen Reichskommission" und weitere liberale Historiker zum Opfer fallen. An diesen beiden oeffentlich exponierten Persoenlichkeiten laesst sich der Erfolg der voelkischen, ethnozentrischen Variante gegenueber der republikanisch orientierten Wissenschaft konstatieren. Der durch den Geographen und fuehrenden Volkstumspropagandisten Friedrich Metz in Zusammenarbeit mit Albrecht Penck inszenierte Niedergang der "Stiftung fuer deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" in Leipzig findet eine vergleichbare Entwicklung ebenfalls bei den Historikern um Albert Brackmann und Hermann Aubin, die seit dem Goettinger Historikertag eine Fuehrung der Volksgeschichte innerhalb der Geschichtsdisziplin beanspruchen (vgl. Ingo Haar 1997).

6. Aufgrund neuerer Forschungsergebnisse ueber die Volksforschung in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit steht heute fest, dass trotz der politischen Zaesur 1933 eine personale wie institutionelle Kontinuitaet innerhalb der Volksforschung bestand. Mit der Gruendung der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) seit 1931, die unmittelbar mit der Schliessung der Leipziger Stiftung einhergehen, faellt auch eine neue Phase der Aussenpolitik zusammen. Die erste Huerde, auf die sich die Nachfolgeinstitution konzentriert, ist die Rueckgliederung des Saarlandes, welche mit erheblichen kulturpropagandistischen Mitteln, z.B. dem von Otto Maull, Hermann Aubin, Georg W. Sante und Hermann Overbeck herausgegebenen Saaratlas, durchgesetzt wird. Die volle Anerkennung der Machthaber im Dritten Reich erfaehrt die ethnozentrische Geopolitik jedoch durch die Vorbereitung des Muenchner Abkommens und die Neuordnung der Tschechoslowakei. Fuer den politischen Entscheidungsprozess erarbeiten die VFG wichtige Grundlagen. Entlang der suedostdeutschen Reichsgrenze werden neue Kulturraumeinheiten kreiert, die den bis dahin gebraeuchlichen Begriff der "bayerischen Ostmark" obsolet werden lassen. Die in der Weimarer Republik eingeleiteten Projekte des "Handwoerterbuchs des Grenz- und Auslandsdeutschtums" und des "Deutschen Volkskunde Atlasses" zeitigen erst im Dritten Reich Ergebnisse, die auch der SS direkt zufliessen. Massgeblich daran beteiligt sind die VFG, die in der NS-Zeit einen kulturwissenschaftlichen Brain trust bisher ungeahnten Ausmasses bilden. In dieser Grossforschungseinrichtung sind annaehernd 1.000 Wissenschaftler und Archivare organisiert. Sie wirken durch ihre Denkschriften, Memoranden, Statistiken und kartographischen Werke bis in die hoechsten Reichszentralen. Waehrend des Zweiten Weltkrieges unterstuetzen sie schliesslich die Bevoelkerungspolitik der Besatzungsverwaltungen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die vorwiegend dem jungkonservativen Spektrum, d.h. den rechtsradikalen voelkischen Zirkeln angehoerenden Intellektuellen im Deutschen Reich massgeblich kulturpolitisch beratend taetig waren, gewinnen die fuer die Weimarer Republik bisher erarbeiteten Studien ein anderes Gewicht und muessen neu bewertet werden (vgl. Michael Burleigh 1988, Gabriele Camphausen 1990, Willi Oberkrome 1993, Michael Fahlbusch 1998, Ingo Haar 1998).

7. Das Neue an der Volkswissenschaft der 1930er und 40er Jahre ist die Einbeziehung quantitativer Methoden; deutsche Familiennamen sind nicht mehr allein als "Leitfossilien bei einer voelkerkundlichen 'Geologie'" zu gebrauchen (H. J. Beyer 1942, S.4). Oekonomische Aspekte und politische wie die der Gesinnung tragen zur Definition einer ethnopolitischen Neuordnung Europas bei. Damit ist die Differenz zu den ueberwiegend historisch abgeleiteten volkskundlichen und stammesgeschichtlichen "Problemstellungen", wie sie in der Weimarer Republik entwickelt wurden, bezeichnet. Der umfassendere Ausdruck "Landes- und Volksforschung", der in den 30er Jahren aufkommt, vermittelt diese Differenz. Galt in der Weimarer Zeit das Hauptaugenmerk dem Verhaeltnis der deutsch-slawischen und deutsch-romanischen Bevoelkerungsanteile in den Grenzgebieten und in den Grenzen des mittelalterlichen Deutschen Reiches, so ging es nunmehr um die Quantifizierung der 'Schaedigung' des deutschen Volkstums durch fremde Bevoelkerungsgruppen in Europa und Uebersee. Das Ziel lautet in den 30er Jahren nunmehr, ethnische Minderheiten als oekonomisch das Deutschtum in Ost- und Suedosteuropa gefaehrdend zu untersuchen oder ihre Inferioritaet hervorzuheben. Wichtige wissenschaftliche Methoden sind hierzu Sozialgeschichte, Sozialgeographie und die Bevoelkerungsstatistik, also Sozialtechnik, die sich nicht mehr wie in den 20er Jahren mit Sprachenstatistik allein begnuegen.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Michael Fahlbusch <ametro@hol.gr>
Subject: Thesenpapier: Geopolitik vor 1933
Date: 3.11.1997


       

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