Am 9. Oktober d.J. fand in Bonn auf dem 51. Deutschen Geographentag eine Sitzung des Arbeitskreises Geschichte der Geographie statt.Michael Fahlbusch aus Basel referierte dabei Ergebnisse seines im Sommer an der Universitaet Bonn beendeten DFG-Forschungsprojektes ueber die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG).
Fahlbusch knuepfte an das im Juni dieses Jahres in Berlin unter der Leitung Juergen Kockas stattgefundenen "Diskussionsforums ueber Volksgeschichte" an. Auf dieser Veranstaltung wurde - wie in H-Soz-u-Kult dokumentiert - die Rolle der Historiker im Dritten Reich diskutiert und die Frage gestellt, ob eine Beteiligung von Historikern am Voelkermord moeglich gewesen sei. Verhandelt wurde die Rolle fuehrender Nachkriegshistoriker der Sozialgeschichte, Theodor Schieder und Werner Conze, die im besagten Zeitraum zwischen 30 und 40 Jahre alt waren. Ihnen wird u.a. von Goetz Aly, Peter Schoettler und Ingo Haar vorgeworfen, dass sie sich mit ihren bevoelkerungs- und landeskundlichen Denkschriften fuer die Vernichtung der juedischen Bevoelkerung und anderer Minderheiten in Polen eingesetzt haetten. Beide Wissenschaftler, ueber die im Sommer in Berlin diskutiert wurde, gehoerten dem von Fahlbusch erstmalig vorgestellten Brain trust der VFG an, genau genommen der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Er stellte fuer die neu entbrannte wissenschaftshistorische Debatte die Frage, ob es eine Institution groesseren Ausmasses gegeben habe, die die zweckgerichtete ethnographische Forschung (voelkische Geographie, Volksgeschichte und Volkskunde) angeleitet hat. Seine Ausfuehrungen betrafen die in der Diskussion bisher ausgeklammerten neuralgischen Punkte:
1. leisteten die VFG mittels landeskundlicher und statistischer Methoden wissenschaftliche Begleitforschung fuer den Holocaust. Als Arbeitseinheit der SS waren sie und die ihr unterstellten "Abteilung fuer Landeskunde" sowie "Zentralkommission fuer wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland" schliesslich fuer die statistische Erfassung und kartographische Aufbereitung bevoelkerungspolitischer Grundlagedaten verantwortlich, die der SS unmittelbar fuer die Planungen u.a. am Generalplan Ost und der Beseitigung von ethnischen Minderheiten zur Verfuegung standen.
2. erlaeutere Fahlbusch am Beispiel der ins Stocken geratenen Verhandlungen des Abkommens um den deutsch-russischen Austausch von geraubten Kulturguetern, dass die Mitglieder der VFG neben anderen Arbeitseinheiten des Dritten Reiches aktiv am Kulturraub beteiligt gewesen seien. In diesem Sommer ist bekanntlich Bundeskanzler Helmut Kohl mit einer unter grossem Aufwand herausgegebenen 120seitigen Magisterarbeit von Ulrike Hartung von der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen ueber das Sonderkommando Kuensberg zu Boris Jelzin geflogen, um ueber die Restitution geraubter Kulturgueter weiterzuverhandeln. Was Frau Hartung nicht wusste: die Sowjets waren bereits seit dem Einsatz dieses Sonderkommandos in der Kalmuekensteppe im Herbst 1942 ueber das Ausmass des deutschen Kulturraubs informiert. Beteiligt waren daran Vertreter der VFG. Die VFG uebernahmen nicht nur die Funktion einer Hehlereinrichtung wie etwa die Verwaltung der in Paris geraubten Bibliotheque Polonaise fuer Rosenbergs Hohe Schule, was Michael Burleigh bereits vor neun Jahren ausfuehrlich geschildert hat, sondern sie waren eine zentrale Einheit, mit deren Hilfe erst ein effizienter Kulturraub moeglich war. Dies legte Fahlbusch am Beispiel der Suedostdeutschen Forschungsgemeinschaft in Wien eindruecklich dar, deren Vorstand mit Hugo Hassinger und Otto Brunner 1941 das 10-jaehrige Jubilaeum zusammen mit Ernst Kaltenbrunner feierten. Wenig spaeter drangen Mitarbeiter der Wiener Volksforscher in Belgrad ein und entwendeten die Volkszaehlungsergebnisse und topographische Karten. Diese wurden unmittelbar in bevoelkerungspolitische Karten auf Gemeindebasis umgesetzt und in Spezialkarten mit nur Volksdeutschen oder nur Juden noch 1941 den Besatzungsverwaltungen zur Verfuegung gestellt. Ein Jahr spaeter war bekanntlich "Serbien judenfrei".
3. arbeiteten die VFG als Brain trust den Zentralen des Deutschen Reiches landeskundliche Informationen fuer den politischen Entscheidungsprozess durch Denkschriften und interne Memoranden zu. Sie nahmen ausserdem die Steuerung eines gesamten interdisziplinaeren kulturwissenschaftlichen Bereiches wahr. Sie uebten die Funktion einer Grossforschungseinrichtung aus. Ohne als solche in der Oeffentlichkeit zu erscheinen, bildeten sie nicht nur eine schulbildende Macht, sondern uebten einen Monopolanspruch innerhalb der Kulturwissenschaften aus.
Vor diesem Hintergrund duerfte die regional zu vertiefende Aufarbeitung der landeskundlichen Forschung allergroesste Bedeutung fuer die wissenschaftshistoriographische Forschung erhalten. Man darf auch mit erhoehter Spannung die Geschichte der Deutschen Gesellschaft fuer Geographie erwarten. Wird die Geographie, die in Deutschland zur Zeit ueber keinen Lehrstuhl fuer Wissenschaftsgeschichte verfuegt, in der Lage sein, ihre Geschichte und die ihrer eigenen Zunft aufzuarbeiten? Das selbst ideologische Grenzen ueberwindende und den Kalten Krieg ueberdauernde kollektive Beschweigen der eigenen Zunftvergangenheit scheint auch bei Geographen beendet worden zu sein. Wird die Deutsche Geographie ihrem Motto gerecht: "Europa in einer Welt im Wandel"? Die internationale Oeffentlichkeit hat jedoch ein Recht darauf, endlich ueber die Rolle auch der deutschen Geographen in der NS-Zeit informiert zu sein.
Michael Fahlbusch, z. Z. Athen, 13.10.1997
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