Gut drei Wochen nach dem 43. Historikertag in Aachen ist es an der Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen - diesmal aus der Perspektive desjenigen, der wie ich noch nicht habilitiert ist. Es konnte ja zwischenzeitlich der Eindruck entstehen, als handle es sich bei unserem Protest ausschliesslich um eine PrivatdozentInneninitiative - beispielsweise war wohl Frau Schorn- Schuette dieser Meinung, die davon trotz meines wiederholten Hinweises nicht abruecken mochte. Wer freilich die Internet-Diskussion der vergangenen Monate verfolgt und sich dazu die Unterschriftenliste des Resolutionstextes einmal naeher angeschaut hat, weiss es besser. Die Initiative wurde und wird massgeblich auch von noch nicht habilitierten Historikerinnen und Historikern vorangetrieben, weil die derzeitige miserable Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses uns einfach alle angeht. Frueher oder spaeter stehen die HabilitandInnen von heute dort, wo sich die PrivatdozentInnen gegenwaertig schon befinden, naemlich im Stellenstau. Also muessen Loesungsstrategien her mit Perspektiven, die ueber einen Abbau des aktuellen PrivatdozentInnenbergs hinausgehen und das Schicksal zukuenftiger Historikergenerationen im Auge behalten. Aachen war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Der Verband hat sich der Sorge der jungen Historikerinnen und Historiker um ihre Berufsaussichten nicht verschlossen und hat dies auch durch die einmuetige Verabschiedung unserer Resolution offiziell bekannt.
Als besonders eindrucksvoll erinnere ich mich an die Debattenbeitraege einiger Professorinnen, die mit Verve fuer unser Anliegen eintraten. Das ist nichts Geringes, haelt man sich die Reserve des Historikerverbands in frueheren Jahren gegenueber politischen oder gesellschaftlichen Fragen vor Augen. Und als nachgerade revolutionaer kann die Entscheidung gelten, den Ausschuss um zwei aus den Reihen des Nachwuchses zu besetzende Positionen zu erweitern. Wie mehrheitsfaehig dieser Beschluss der vorausgehenden heftigen Debatte zum Trotz am Ende war, belegt die Wahl Sylvia Paletscheks, die unter acht Kandidaten das zweitbeste Abstimmungsergebnis der Mitgliederversammlung erzielte! Jetzt heisst es: "dran bleiben"! Die naechsten Schritte sollten darin bestehen, Verbindungen zu anderen Geisteswissenschaften zu knuepfen. Denn dort sieht es kaum besser aus, ja in vielen Faechern ist die Stellensituation noch prekaerer als in der Geschichtswissenschaft.
Des weiteren muss die Oeffentlichkeit staerker mobilisiert werden. Leider haben wir die "Meinungsmacher" mit unserem Protest nicht erreicht - moeglicherweise will man warten, bis noch mehr unserer Besten ins Ausland abgewandert sind. Doch auch in den Redaktionsstuben der grossen Zeitungen darf man sich ruhig einmal klar machen, dass eine vielgestaltige, innovative Geschichtswissenschaft, wie wir sie doch derzeit sehen, nicht dauerhaft fuer "kleines Geld" zu haben ist. Und last, but not least muessen die Bildungspolitiker gezielt angesprochen werden. Bedauerlicherweise haben sich die vom Verband eingeladenen Bildungsexperten vor einem Auftritt auf dem Aachener Historikertag "gedrueckt". Wir Jungen haetten gern einmal von ihnen selbst die kuenftigen hochschulpolitischen Weichenstellungen erfahren. Unter Umstaenden waere doch mehr herausgekommen, als das von Herrn Schulze mit stoischer Beharrlichkeit immer wieder hervorgebrachte "fuer mehr Stellen gibt's kein Geld". Denn, wenn das so ist - warum wurde und wird immer weiter in dem Masse ausgebildet wie bisher? Wozu die Investition mehrerer hunderttausend Mark an Steuergeldern in die Ausbildung eines Hochschullehrers, der am Ende seiner Ausbildung bestenfalls mit befristeten "Kettenvertraegen" sein Auskommen bis zur Rente finden wird?
Und schliesslich: was ist das fuer eine "Bildungspolitik", die es zu einer derart katastrophalen Situation hat kommen lassen? Politik, Bildungspolitik zumal, hat etwas mit Verantwortung zu tun - Verantwortung fuer die Gegenwart wie fuer die Zukunft einer Gesellschaft. Mir kommt es vor, als haetten unsere Politiker allzu lange in der Vergangenheit gelebt. Und nun scheint sich alles nur noch um die Frage zu drehen, wie die soeben einsetzende Pensionswelle finanziert werden kann. Wenn wir - die Kinder der sozialliberalen Bildungsreform - nicht von einer zynisch auf "Kostenneutralitaet" zur Sicherung gigantischer Pensionslasten schielenden Politik einfach uebergangen werden wollen, muessen wir uns politisch organisieren und laut werden. Passen wir jetzt nicht auf, frisst die Bildungsreform ihre Kinder!
Dr. Anne Chr. Nagel/Giessen
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