Die H-Soz-Kult-Debatte ueber die Situation des akademischen "Nachwuchses"* macht deutlich, dass die InitiatorInnen Anne Chr. Nagel und Ulrich Sieg mit ihrer Initiative offenbar ein Problem angesprochen haben, das viele Promovierende und Habilitierende ebenso wie die stellensuchenden PrivatdozentInnen nicht nur aus den Geschichts-, sondern auch den Kultur- und Sozialwissenschaften intensiv beschaeftigt, denn schliesslich geht es ja um ihre individuelle Zukunftsperspektive und ihre kollektiven Arbeitsbedingungen. Ein Problem, das bisher aber von den Betroffenen selbst i.R. nicht oeffentlich gemacht, sondern meist im akademischen EinzelkaempferInnenstil nach dem Motto "Augen zu und durch" zu loesen versucht und bestenfalls beim gemeinsamen Restaurantbesuch im Anschluss an akademische Vortraege und Forschungscolloquiuen intensiv eroertert wurde.
Folglich ist in der laufenden hochschulpolitischen Reformdebatte die Stimme des akademischen "Nachwuchses" so gut wie nicht zu hoeren, was bemerkenswert ist, da er neben den gegenwaertigen und zukuenftigen Studierenden doch in besonderem Masse von allen hochschulpolitischen Reformbeschluessen betroffen sein wird und zwar, worauf Cornelia Rauh-Kuehne zu Recht hinweist, aufgrund der verschiedenen Karriereverlaeufe und der unterschiedlichen alternativen Berufschancen in den Technik- und Naturwissenschaften in anderer Weise als in den Kultur- und Sozialwissenschaften, und, was von ihr nur implizit angesprochen wird, zudem Frauen haeufig immer noch anders als Maenner.
Was benoetigen wir, wenn wir die Stimme des "Nachwuchses" aus den Kultur- und Sozialwissenschaften, insbesondere aber den uns besonders tangierenden Geschichtswissenschaften, staerker in diese hochschulpolitische Debatte einbringen wollen? Meines Erachtens zunaechst:
1) Wie bereits Sylvia Paletschek vorgeschlagen hat, genauere Informationen ueber die Situation des akademischen "Nachwuchses" und damit eine praezise Datenbasis fuer eine angemessene Analyse. Hiermit sollten wir in unserer Disziplin beginnen, vielleicht folgen andere.
2) Einen darauf aufbauenden konsensfaehigen auf Kernpunkte beschraenkten knappen Katalog mit Nah- und Fernzielen zur Politik der akademischen Nachwuchsfoerderung in den Geschichtswissenschaften im besonderen und den Kultur- und Sozialwissenschaften im allgemeinen, den wir in offener Diskussion erarbeiten und fuer dessen Durchsetzung wir uns gemeinsam einsetzen.
3) Die Herstellung von Oeffentlichkeit fuer das Problem und unsere Forderungen. Ein Forum und zugleich ein Medium hierfuer koennte die Berufsorganisation der HistorikerInnen, der "Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands" sein. Vielleicht ist es eine eroerternswerte Idee, dass die Mitgliederversammlung des Verbandes das Thema "Situation und Perspektiven des akademischen Nachwuchses im Bereich der Geschichtswissenschaften" auf dem naechsten HistorikerInnentag in Aachen auf ihre Tagesordnung setzt, debattiert und dazu eine Arbeitsgruppe einsetzt, die eine solche Erhebung vorbereitet, organisiert und analysiert und darauf aufbauend Forderungen entwickelt und zur Diskussion stellt. In dieser Arbeitsgruppe sollte der "Nachwuchs" beiderlei Geschlechts ueberwiegen. Zudem waere es zu ueberlegen, ob der in nicht kleiner Zahl im "Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands" organisierte "Nachwuchs" auf der Mitgliederversammlung in Aachen vorschlaegt, dass in Zukunft im "Ausschuss des Verbandes" nicht nur fast ausschliesslich ProfessorInnen vertreten sind, sondern auch VertreterInnen des promovierten und habilierten "Nachwuchses", die als deren AnsprechpartnerInnen im "Ausschuss" fungieren und deren Probleme und Interessen in diesem Gremium unmittelbar einbringen koennen. Vielleicht greifen VertreterInnen des "Ausschusses des Verbandes" das Thema und diese Vorschlaege auf?
Zur Vorbereitung koennte, wenn der vorgeschlagene Tagesordnungspunkt "Situation und Perspektiven des akademischen Nachwuchses" aufgenommen und auf der zweiten der beiden auf dem naechsten HistorikerInnentag stattfindenden Mitgliederversammlungen verhandelt werden wuerde, vorab ein Treffen aller Interessierten auf diesem HistorikerInnentag durchgefuehrt werden. Dessen Termin sollte und muesste schon wegen der Raumfrage und der Form der Ankuendigung in Abstimmung mit dem Organisationskommitee des HistorikerInnentages gesucht und gefunden werden. Zum Erfahrungs- und Meinungsaustausch und damit zur Vorbereitung dieses Treffens koennten und sollten wir weiterhin die Liste H-Soz-Kult nutzen.
Mir scheint es wichtig zu sein, das Problem als ein kollektives und politisches zu begreifen, wenn wir aus dem individuellen 'Jammertal' herauskommen wollen. Dazu gehoert selbstverstaendlich nicht nur, dass wir ueber unsere Position zu den gegenwaertig debattierten hochschulpolitischen Reformen nachdenken, sondern dass wir auch ausseruniversitaere berufliche Alternativen realistisch pruefen. Ich wuerde mich freuen, wenn meine Vorschlaege auf Resonanz stoessen und zu der u.a von Cornelia Rauh-Kuehne gewuenschten Ziel- und Handlungsorientierung der Diskussion beitragen.
PD Dr. Karen Hagemann
Institut fuer Geschichtswissenschaften / Zentrum fuer Interdisziplinaere Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universitaet Berlin (hagemann@kgw.tu-berlin.de)
* P.S. Ab wann und bis wann gehoeren Mann und Frau eigentlich zum akademischen "Nachwuchs"??? Wer ist ein "Junger Historiker" (so die Bezeichnung der umstrittenen Sektion auf den HistorikerInnentagen), zaehlen dazu auch Historikerinnen? Ist es angemessen PrivatdozentInnen mit einer seitenlangen Publikationsliste und zum Teil langjaehrigen Forschungs- und Lehrerfahrungen noch unter dem Begriff "akademischer Nachwuchs" zu subsumieren? Zeigt sich nicht schon in dieser vielfaeltige Differenzen ueberdeckenden Bezeichnung, mit der noch selbst im Ausland in ihrem Fachgebiet laengst als ExpertInnen anerkannte PrivatdozentInnen erfasst werden, ein Teil des zu eroerternden Grundproblems?
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