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From: Raimund Lammersdorf (Raimund.Lammersdorf@phil.tu-chemnitz.de)
Subject: History Online u.v.a.m.: deutsch oder englisch?
Date: 07.02.1997 07:46


Wenn ich die These von einem der letzten postings gemeinerweise etwas zuspitze, dann duerften Aegyptologen ihre Arbeiten nur noch in Hieroglyphenschrift schreiben. Ich glaube nicht, dass man nur auf Deutsch ueber deutsche Geschichte schreiben kann. Umgekehrt bin ich auch nicht der Ansicht, wir muessten es jetzt den Naturwissenschaften gleichtun. Und aus wissenschaftspolitischen Gruenden auf Englisch zu schreiben bringt insofern nicht viel, als DeutschlandhistorikerInnen im Ausland im allgemeinen sehr gut Deutsch lesen koennen.

Es gibt hierbei, meine ich, kein Entweder-Oder - beide Sprachen haben ihren Zweck.

Ebenso scheint mir, dass die Grenzen der Uebersetzbarkeit nicht unbedingt nur ein Dilemma sind, sondern auch Chancen fuer neue Erkenntnisse liefern. Wenn man an Unuebersetzbares stoesst trifft man auf die Besonderheit einer nationalen Geschichte, die sich eben auch in der Sprache ausdrueckt. Insofern ist Sprache an sich Quelle. Im Englischen ueber deutsche Geschichte zu schreiben kann den oft schoenen Effekt bringen, dass man genauer und vergleichend ueber im Deutschen selbstverstaendliche Begriffe nachdenken muss. Z.B. kann der deutsche Staatsbegriff nicht einfach als "state" wiedergegeben werden, ohne seine besondere metaphysische Qualitaet zu verlieren. So werde ich auf ganz zentrale Unterschiede zwischen deutschen und angelsaechsischen Verfassungstraditionen hingewiesen. In einer anderen Sprache zu schreiben oder gar zu denken vergroessert den wissenschaftlichen Abstand zum untersuchten Objekt und erweitert damit die eigene Perspektive.

Daneben: Ob man die Sprache vieler HistorikerInnen in Deutschland tatsaechlich Deutsch nennen kann, finde ich oft zweifelhaft. Es hat mich immer etwas befremdet, dass deutsche HistorikerInnen einerseits das mangelnde Geschichtsbewusstsein in der Oeffentlichkeit und den geringen gesellschaftlichen oder politischen Einfluss ihrer wissenschaftlichen Arbeit beklagten, andererseits aber auch nicht bereit waren, ihre Erkenntnisse leicht verstaendlich darzubieten. Im Gegenteil wird solches Schreiben - das oft mehr Muehe bereitet, als im Wissenschaftsjargon zu bleiben - als unserioeser Journalismus abgetan. Auf diese Weise ueberlaesst man natuerlich das Feld den Halbgebildeten, den Geschichtsverfaelschern oder Arnulf Baring.

Verstaendliche und damit wirkungsvolle Texte zu liefern dient nicht allein der Unterhaltung, sondern stellt eigentlich eine der ganz zentralen Aufgaben der Geschichtswissenschaften in einer demokratischen Gesellschaft dar. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo sich allerorten nationale, gar nationalistische Neudefinitionen des deutschen Selbstverstaendnisses ankuendigen, ist es von groesster Bedeutung, dass die Geschichtswissenschaften zumindest als Korrektiv im oeffentlichen Diskurs vorhanden sind.

Raimund Lammersdorf


Raimund Lammersdorf rlammers@fas.harvard.edu

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