Antwort: Sterblichkeitsdaten als Sozialindikatoren?

Zur Anfrage von Dietrich Oberwittler nach der Brauchbarkeit von Sterblichkeitsdaten als Sozialindikatoren laesst sich aus der Sicht der Sozialgeschichte der Medizin zweifellos sehr viel sagen. Dabei gibt es zwei prinzipielle Grundpositionen.

Die eine ist die, dass man  Sterblichkeitsdaten als soziale Konstrukte bezeichnet, die wenig oder gar keinen Informationswert fuer die Krankheiten selbst besitzen, weil sie lediglich die komplexen sozialen Umstaende widerspiegeln, unter denen Statistik bzw. Medizin betrieben wurde. Das ist vielleicht in der Sozialgeschichte der Medizin sehr viel naheliegender als anderswo, weil ja Diagnose letztlich immer Interpretation bestimmter koerperlicher/psychischer Krankheitsvorgaenge darstellt, die kaum direkt beobachtbar sind. Zur Geschichte des "aerztlichen Blicks" gibts dazu eine schoene Arbeit von Jan Bruegelmann, Der Blick des Arztes auf die Krankheit im Alltag 1779-1850. Medizinische Topographien als Quelle fuer die Sozialgeschichte des Gesundheitswesens, Berlin 1982.

Eine "positivere" Sicht versucht hingegen, die Sterblichkeitsdaten als Quellen zu verwenden, obwohl damit zahlreiche Probleme verbunden sind. Dabei ist es natuerlich dann besonders wichtig, diese Probleme klarer einschaetzen zu koennen. Diese Diskussion ist mancherorts durchgefuehrt worden, einschlaegig immer noch zB bei Spree, Reinhard, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Goettingen 1981, S. 22-30. Systematische Probleme der Preussischen Statistik ergeben sich vor allem dadurch, dass bis zum Ersten Weltkrieg die meisten Diagnosen ohne Arzt zustande gekommen sein duerften, da keine obligatorische aerztliche Leichenschau erfolgen musste. Weiterfuehrende Literatur gibts dazu natuerlich reichlich, ich nenne nur die Autoren John Brown und Joerg Voegele fuer Deutschland sowie Edward Higgs und Simon Szreter fuer den englischsprachigen Forschungsstand.

Die Qualitaet historischer Diagnosen ist ein Riesenthema, an das sich immer wieder verschiedene Forscher herangewagt haben. Zuletzt und bisher vielleicht am besten die Berliner Medizinhistorikerin Johanna Bleker in: Bleker et. al. (Hg.), Kranke und Krankheiten im Juliusspital zu Wuerzburg 1819-1829. (...), Berlin 1995 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Heft 72). Das Grundproblem bleibt sich dabei m.E. gleich, ob man fruehes oder spaetes 19. Jh. behandelt.

Hier sei deshalb nur soviel gesagt, dass dabei die Fragen gestellt werden muessen, wie sich Diagnosen von Aerzten und Laien unterschieden und ob sich ggf. auch Diagnosen verschiedener Aerzte unterschieden. Neuere Forschungsprojekte zur Qualitaetskontrolle im Krankenhaus seit dem Zweiten Weltkrieg legen die Vermutung nahe, dass selbst die Diagnosen der "modernen" Medizin von sehr variabler Qualitaet sind wenn verschiedene Aerzte unabhaengige Diagnosen des "gleichen" Falles stellen, deshalb sollte man von aerztlichen Diagnosen des 19. Jh. nicht zu viel erwarten. Im Bereich der mir wohl vertrauten Lungenkrankheiten scheinen mir die mehr oder weniger nosologische Diagnosen (das sind vereinfacht solche, die an konkrete Symptome anknuepfen) recht zuverlaessig zu sein. Daten ueber Krankheiten der Verdauungsorgane gehoeren deshalb sicherlich zu den besser verwendbaren Daten und werden ja immer wieder gern verwendet.

Zum Schluss: der Sozialgeschichte der Medizin bleibt gar nichts anderes uebrig, als die einfache Frage ob "voll zuverlaessig oder unbrauchbar" zurueckzuweisen. Historische Daten allgemein, historische Diagnosen aber ganz besonders sind immer mit hoechster Vorsicht zu behandeln. Es handelt sich um Indikatoren, bei denen man die Ergebnisse immer "mit angezogener Handbremse" interpretieren sollte. Die beruehmten Grautoene der Geschichte entziehen sich meist der klaren Zuordnung in wahr/nicht-wahr. Das hindert nicht deren Verwendung als historische Quelle, verlangt aber doch eine sehr sorgfaeltige Quellenkritik.

Flurin Condrau

Flurin Condrau, Lic. phil.
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte  
Economic & Social History
Ludwig-Maximilians-Universitaet
University of Munich - Germany
Ludwigstr. 33/III
80539 Muenchen
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From: Flurin Condrau <F.Condrau@swg.vwl.uni-muenchen.de>
Subject: Re: Anfrage "Sterblichkeitsdaten als Sozialindikatoren?"
Date: 12.03.1998


       

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