Diskussionsbeitrag zur Konferenz "Fremde und Fremdsein in der DDR"

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Angst vor "polnischen Zuständen"?(1) - Polnische Arbeitskräfte in der DDR.

von Rita Röhr

Die Diskussion um die historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern hat inzwischen auch die Geschichtswissenschaft erreicht. Am Potsdamer Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung wurde zum Dezember eine Tagung zum Thema Fremde und Fremd-Sein in der DDR vorbereitet. In den dazu vorgestellten Thesen versuchen P. G. Poutrus, D. Kuck und J. C. Behrends einen Spagat: Einerseits soll ein negatives Verhältnis der Bevölkerung zu Ausländern aus der Ablehnung der Staatsmacht, die diese "Fremden" ins Land geholt hatte, entstanden sein. Andererseits soll die Ablehnung von "Fremden" aus der Übernahme von der SED verbreiteter Vorurteile über diese Menschen als "feindlichen Agenten, Provokateure und Saboteure"(2) resultieren. Dieselbe Staatsmacht, deren Ablehnung die Fremdenfeindlichkeit begründen sollte, wird gleichzeitig als Verbündeter und Inspirator xenophober Untertanen präsentiert.

Ich habe in meiner Dissertation(3) das wirtschaftspolitische Kalkül der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, das Verhalten von Staatsorganen und Betriebsleitungen und, soweit möglich, das Verhältnis deutscher zu ausländischen Kollegen anhand der polnischen Arbeitskräfte im Bezirk Frankfurt/O. untersucht. Vielleicht können einige meiner Ergebnisse zur Versachlichung der Debatte beitragen.

In Folge der beidseitigen Lockerung des Grenzregimes ab Mitte der fünfziger Jahre entwickelte sich im Grenzgebiet zwischen der DDR und der VR Polen auf Regionalebene eine wirtschaftliche Kooperation. Bereits vor Abschluß eines entsprechenden Vertrages, der sog. Pendlervereinbarung vom 17. März 1966 begannen 1965 in Guben und Görlitz die ersten Polen ihre Pendlerexistenz. Die Vereinbarung, die den Einsatz von polnischen Pendlern in Betrieben der DDR-Grenzbezirke regelte, eröffnete der DDR die Möglichkeit, zusätzliche Arbeitskräfte aus der polnischen Grenzregion in Anspruch zu nehmen. Nach Frankfurt/O., ins Halbleiterwerk (HFO), kamen die ersten Pendler im Jahre 1967. Die Pendler erhielten vertragsgemäß unbefristete Arbeitsverträge. Vor Einführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der VRP berechtigten ein Stempel im Ausweis und der Betriebsausweis zum Überqueren der Grenze.

Die Pendler waren fast ausschließlich Frauen, die bis dato keinen Beruf erlernt hatten und in der DDR qualifiziert werden sollten. Sozial und kulturell blieben die Pendlerinnen in ihren Heimatorten integriert.

Für die DDR-Sicherheitsorgane stellten diese polnischen Arbeitskräfte kein besonderes Problem dar. Ihre Zahl war mit rund 1200 im Jahre 1968 relativ gering, ihr Einsatz war regional beschränkt und somit überschaubar. An einer Reaktion der Regionalbehörden auf Probleme mit dem Grenzregime läßt sich der pragmatische Umgang mit diesen Arbeitskräften erläutern:

In Frankfurt/O. arbeiteten ab 1969 im Restaurant und Hotel Polonia 22 Fach- und 13 Hilfskräfte aus Polen.(4) Die Fachkräfte kamen von weiter her zur Arbeit und fuhren daher nur einmal pro Woche nach Hause. Während die Hilfskräfte (ebenso wie die Beschäftigten des HFO) den Grenzübergang Stadtbrücke passieren durften, sollten die Fachkräfte für die Heim- und Rückreise die Grenzkontrollpunkte Bahnhof Frankfurt/O. oder Autobahn benutzen, was mit erheblichen Umwegen und Wegezeiten verbunden war. Nachdem die polnischen Fachkräfte in ihrer Wojewodschaft die Formalitäten zur direkten Grenzüberquerung auf polnischer Seite erledigen konnten, erschienen sie auf der Rückreise aus dem Urlaub am Grenzübergang Stadtbrücke. "Die deutsche Seite, die Genossen von der Paßkontrolle (MfS - R.R.) haben sich nichts dabei gedacht, sie sahen darin eine Erleichterung für die polnischen Arbeitskräfte und ließen die ersten 3 Urlauber passieren." Erst die Bemühung der Frankfurter Zollbehörde, in Berlin eine offizielle Bestätigung dieser Regelung zu erhalten, führte zum einstweiligen Stopp dieser Praxis. Die Paßkontrolleure wurden "von Berlin" gerügt, "wie sie dazu kommen, eigenmächtig zu handeln." Der zitierte Berichterstatter an die BL der SED hielt den Wunsch der polnischen Beschäftigten selbstverständlich für berechtigt. Im übrigen machte er seine Ablehnung überflüssiger Aufregungen durch Berliner Einmischung deutlich: "Meiner Meinung nach hätte dies alles in einer Beratung zwischen Grenzkontrollorganen des Bezirkes Frankfurt (Oder) mal unter sich und dann mit den Grenzkontrollorganen von Zielona Góra geklärt werden können."

Die Grenzöffnung zwischen der DDR und der VRP am 1. 1. 1972 änderte die Verbindungen zwischen beiden Ländern grundlegend.(5) Begleitet war sie von einer Ausweitung der Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in DDR-Betrieben. Es gab dazu nunmehr zwei zwischenstaatliche Abkommen: Zum einen die schon bekannte Pendlervereinbarung, aufgrund derer rund 3.000 bis 4.000 Personen im DDR-Grenzgebiet arbeiteten, zum anderen ein bereits am 25.5.1971 unterzeichnetes Regierungsabkommen, das die Beschäftigung sog. Vertragsarbeiter regelte. Diese Vertragsarbeiter erhielten eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer der Beschäftigung (in der Regel 3 Jahre). Die Arbeitsverträge schlossen sie zeitlich befristet individuell mit dem jeweiligen Betrieb ab. Für je 100 Vertragsarbeitern in einem Betrieb wurde von polnischer Seite ein Gruppenleiter eingesetzt, der sich um die Belange der Gruppe zu kümmern hatte und gleichzeitig der Kontrolle diente. Für die Kontrolle polnischer Bürger in DDR-Betrieben zeichnete der polnische Sicherheitsdienst verantwortlich.

Die Vertragsarbeiter, ihre Zahl schwankte um 6.000 bis 8.000 Personen, verfügten im Gegensatz zu den Pendlern in der Regel über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie kamen aus dem Landesinneren Polens und wurden vor allem in den Südbezirken und in Berlin eingesetzt. Da sie weit entfernt von ihren Heimatorten arbeiteten, brachte man sie für die Dauer ihrer Beschäftigung in der Umgebung ihres Arbeitsortes in Gemeinschaftsunterkünften unter, meist in Neubaublocks innerhalb einer Wohnsiedlung. Sie waren also, anders als die Pendlern, objektiv genötigt, sich in eine deutsche Wohnumgebung eingliedern. Sowohl den Behörden als auch den Betreffenden selbst war aber klar, daß es dabei nur um einen zeitweiligen Aufenthalt handeln würde. Eine Integration in die DDR-Verhältnisse war damit subjektiv nur in geringem Umfange vorgesehen. Im Mittelpunkt des individuellen Interesses stand der Verdienst durch Arbeitsaufnahme in der DDR.

Die erhebliche Steigerung der Zahl polnischen Arbeitskräfte weckte aber noch kein gesteigertes Interesse der DDR-Sicherheitsorgane. Erst bei politischen und sozialen Unruhen in Polen, besonders 1970, wurde stärker darauf geachtet, wie die DDR-Bevölkerung auf die polnischen Ereignissen reagierte. Allerdings ergaben die Stimmungsberichte offenbar kaum alarmierende Signale, sie wurden bald wieder eingestellt.(6) Die polnischen Arbeitskräfte waren in die Betriebe eingebunden. Sie arbeiteten dort in gemischten Brigaden, was eine soziale und arbeitsorganisatorische Integration in das Arbeitsumfeld beförderte. Obwohl zu Beginn der Beschäftigung das tradierte Bild vom arbeitsscheuen Polen vorherrschend war, konnten diese Vorurteile in gemeinsamer Arbeit durchaus abgebaut werden. Es gab jedoch auch Betriebe, in denen erst aufgrund staatlichen Eingreifens das Verhalten gegenüber den polnischen Kollegen verbessert wurde.(7) Die Sanktionsschwelle gegenüber polenfeindlichen Äußerungen und Aktionen war sehr niedrig. Eine Annäherung im Betrieb, eine Eingliederung in die Arbeitskollektive war offiziell erwünscht und angestrebt. Eine gute Zusammenarbeit(8) im Betrieb war förderlich für ein gutes Betriebsklima und planerfüllende Produktion. Es entsprach dem funktional wirtschaftlichen Kalkül des Arbeitskräfteeinsatzes. Die ideologische Verbrämung der Zusammenarbeit als Ausdruck von brüderlicher Hilfe und Völkerfreundschaft konnte darüber kaum hinwegtäuschen. Sie war aber zur Legitimation des Arbeitskräfteeinsatzes und zur Formierung des Betriebsklimas in SED, FDGB und Betrieb üblich, relativ erfolgreich und entspannend für alle Seiten. Eine weitergehende Annäherung über die betriebliche Ebene hinaus wurde zwar nicht verhindert, jedoch auch nicht sonderlich gefördert.

Erst Ende der siebziger Jahre nahm das Sicherheitsinteresse aufgrund der politischen Entwicklung in der VR Polen zu. Die Grenze zu Polen wurde von der DDR im Oktober 1980 einseitig geschlossen. Das allgemeine politische Mißtrauen belastete auch das Verhältnis zu den polnischen Arbeitskräften in der DDR. Es wurden vom MfS seit 1980 wieder regelmäßig Berichte angefertigt, die unter anderem die Stimmung unter den polnischen Beschäftigten im Betrieb beleuchteten. Konstatiert wurden eine wachsende politische Agitation und die Relegierung bei offener Agitation für Solidarnosc oder "Aufwiegeln" der polnischen Kollegen.(9) Jedoch war ein solches Auftreten eher die Ausnahme. Die Berichte der Sicherheitsorgane verweisen auf ein ruhiges, politisch bewußt zurückhaltendes Verhalten polnischer Beschäftigter. Sie waren am am Erhalt des Arbeitsplatzes interessiert, Probleme mit der Arbeitsdisziplin gab es daher nur in geringem Umfang.(10)

Nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 beschäftigte die DDR 1982 bis 1984 auf Bitte des polnischen Staates über die bisherigen Vereinbarungen hinaus ad hoc und ohne großen bürokratischen Aufwand 3.000 bis 4.000 polnische Werktätige zusätzlich. Die DDR-Führung hatte sich hierzu aus Einsicht in die politische Notwendigkeit entschlossen, den polnischen Partner auf diese Weise zu unterstützen und zu stabilisieren. Allerdings wurden auch die Sicherheitsmaßnahmen auf beiden Seiten verschärft.

In enger Zusammenarbeit mit den polnischen Sicherheitsorganen(11) weitete das MfS, speziell die HA XVIII (Volkswirtschaft) und das Referat 7 der Abteilung II (Arbeitsgruppe Polen), seine Untersuchungen zu Aktivitäten polnischer Werktätiger in der DDR aus. Jedoch durchdrang das MfS diesen Bereich zunehmend auch selbständig. Nicht nur die Betriebsleitungen, DDR-Betreuer für polnische Beschäftigte und polnische Beschäftigte der Betriebsleitungsebene wurden für Informationen abgeschöpft, sondern es gelangten gezielt IM/GMS zum Einsatz. Prädestiniert für eine solche Aufgabe waren DDRBürger mit Polnischkenntnissen, die für diese Aufgaben gesucht und offenbar auch gefunden wurden.(12) Unter der Maßgabe, die innere Sicherheit der DDR sei durch die Ereignisse in der VR Polen gefährdet, konnten in Zusammenarbeit mit einer Reihe staatlicher Behörden Informationen in und zu vielen Bereichen des täglichen Lebens von Bürgern der DDR und der VRP gesammelt werden.(13) Ansatz für das verstärkte Mißtrauen des MfS war jedoch nicht allein die politische Entwicklung in der VR Polen, sondern der Umstand, daß polnische Beschäftigte mit Konsularpaß in den Westen reisen konnten, ohne eine Genehmigung von DDR-Behörden einholen zu müssen. Speziell die Inhaber eines solchen Passes wurden daher überwacht.(14)

In den 80er Jahren sind die zu delegierenden Pendler in den Wojewodschaften gezielter ausgewählt worden als zuvor. Das ist wahrscheinlich nicht nur den verschärften Sicherheitsmaßnahmen im eigenen Land, sondern den gewachsenen Sicherheitsbedürfnissen der DDR aus Angst vor "polnischen Zuständen" in DDR-Betrieben geschuldet gewesen. Im zentral vorgegebenen Rahmen wählte jede Wojewodschaft die Art der Auswahl und das Thema der Kontrolle selbst. Die Wojewodschaft Zielona Góra z.B. bildete sog. Qualifizierungskommissionen auf Kreis-, Stadt und Wojewodschaftsebene. Der Kommission gehörten Beamte der Arbeitsämter, der regionalen Selbstverwaltung, mind. ein Vertreter der Polizei und der Grenztruppen an. Jede der drei Instanzen mußte mit Gutachten, Befürwortungen, polizeilichem Führungszeugnis und Begründung der Bewerbung für eine Tätigkeit in der DDR durchlaufen werden, bevor derjenige zur Arbeit in die DDR delegiert werden konnte.(15) Ausgesucht wurde offenbar nach politischer Opportunität der Bewerber und nach Beziehungen. Zwar galt als Kriterium sozialer Notstand, jedoch sind einige Fälle bekannt, wo trotz sozialer Notlage gegen die Bewerber entschieden worden ist.(16) Gruppenleiter mußten sich zusätzlich noch der Kontrolle durch eine zentrale Kommission unterziehen. Die eingesetzten Gruppenleiter informierten das Delegierungsorgan relativ unregelmäßig (einmal im Jahr oder seltener) über den Personenstand im Betrieb, besondere Vorkommnisse und gaben eine Einschätzung zum politisch-ideologischen Zustand und zur Arbeit in der Gruppe.(17)

In der Wojewodschaft Gorzów Wlkp. legte man offenbar nicht so großen Wert auf die Auswahl der Pendler. Zwar gab es auch dort entsprechend der zentralen Weisung eine Qualifizierungskommission, jedoch ist die Aufmerksamkeit eher auf die Kontrolle der Bedingungen im Betrieb gerichtet worden. Allmonatlich gingen Berichte der Gruppenleiter über den Personenstand, die Altersstruktur, die Beschäftigungsdauer, den Verdienst der einzelnen Beschäftigungsgruppen, die Qualifizierung und den Einsatz entsprechend der Qualifikation ein. Besondere Vorkommnisse oder politische Probleme und Parteizugehörigkeit nahmen erst den zweiten Rang in der Berichterstattung ein.(18)

Die Zahl der Gruppenleiter wurde, da ihre Tätigkeit der DDR-Seite eine stärkere Kontrolle der polnischen Werktätigen garantierte, erheblich erhöht. Für jede Betriebsgruppe, war sie auch noch so klein, fand sich nun ein Gruppenleiter. Notfalls betreute ein Gruppenleiter mehrere kleine Einsatzgruppen in verschiedenen Betrieben. Als Gruppenleiter wurden in der Regel alte Genossen der PVAP und/oder ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre eingesetzt, in die man auch seitens der DDR großes Vertrauen setzte.(19)

Ob der Entwicklung in Polen und der DDR-Reaktion darauf war das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen im Betrieb zunächst durch steigendes Mißtrauen gekennzeichnet. Dabei muß man jedoch zwei Ebenen unterscheiden.

Unter den Arbeitern griff dieses Mißtrauen kaum. Sie arbeiteten täglich zusammen, mußten sich aufeinander verlassen und schätzten sich in aller Regel als Arbeitskollegen. Die gemischten Brigaden hatten sich bewährt. Sie waren der Garant für eine gute Zusammenarbeit und die Integration in die Betriebe.

Etwas anders sah es wohl im Verhältnis der deutschen Betriebsleitung zu den polnischen Arbeitskräften aus. Hier zeigten sich Mißtrauen und die nationalistische Überzeugung, der Bessere zu sein. Versuche, die polnischen Beschäftigten über Entwicklungen in Polen auszuhorchen, ihnen politische Stellungnahmen abzuluchsen und sie beständig besserwisserisch zu agitieren, änderten das Verhältnis der polnischen ArbeiterInnen zur deutschen Betriebsleitung. Sie verschlossen sich stärker, probierten, Probleme auf eigene Faust zu lösen, und gerieten damit bei der Leitung noch mehr in Verruf.(20) Eine Beschwerde der Botschaft der VRP beim Staatssekretariat für Arbeit und Löhne Anfang 1983 wegen der Zustände im Chemiefaserwerk Guben zeugt genau von dieser Konstellation. Zwar wird die erfolgreiche Integration der polnischen Beschäftigten in die Belegschaft als Konsequenz der Zusammenarbeit in den siebziger Jahren gewürdigt, bemängelt wird aber die Verschlechterung dieser Zusammenarbeit im Verlauf der letzten Jahre infolge "neue(r) Methoden der Leitung der polnischen Gruppen" durch die betriebliche Kaderleitung.(21) Genannt werden dabei unter anderem: "Hervorrufen einer negativen Meinung über unsere Werktätigen sowie auch über die Gruppenleitung bezüglich ihres angeblichen apolitischen und falschen Verhaltens bei gleichzeitigem Versuch, sich unmittelbar in den Erziehungsprozeß in diesem Bereich einzumischen und zwar auf eine Weise, die von der polnischen Seite nicht akzeptiert werden kann."(22)

Ende der achtziger Jahre gab es den Versuch, den Arbeitskräftetransfer aus Polen in die DDR auf neuer vertraglicher Grundlage erheblich zu erweitern. Diese Planungen wurden durch das Ende der DDR hinfällig. Bereits in der Wendezeit änderte sich auch das öffentliche Klima im Verhältnis zu polnischen Bürgern. Die staatlich geförderte Kampagne gegen solche Polen, die sich mit DDR-Waren einen privaten Zugang zur DM verschafften, markiert den Wegfall bisheriger, staatlich gesetzter Grenzen für offen nationalistisches Verhalten.(23)

Angesichts der Abwicklung der DDR-Wirtschaft stand auch die Entlassung der polnischen Kollegen auf der Tagesordnung. Die Entwicklung in den Betrieben verlief jedoch sehr unterschiedlich. Obwohl sich ab dem November 1989 und vor allem nach der Einführung der DM am 01. 07. 1990 unter den deutschen Arbeitern Ellenbogenpraxis und nationalistisches Verhalten ausbreiteten, wurde dergleichen zum Beispiel im HFO nicht dominant. Dazu trugen unter anderem die konsequente Haltung des Betriebsrates und der Betriebsleitung bei: Es gibt keine Unterschiede zwischen Deutschen und Polen - es sind alle Halbleiterwerker.(24) Trotz Verschärfung der Spannungen und damit der Probleme in den Brigaden kam es nicht zu vorzeitigen Entlassungen von Grenzpendlern. Einige der Pendlerinnen wurden bis zum Schluß in den Arbeitshallen bei heruntergefahrener Produktion beschäftigt.

Bestimmte von der DDR propagierte "sozialistische Werte" waren im Alltag der DDR-Bevölkerung verankert und wurden von ihr ausdrücklich akzeptiert. Eben das wird in den eingangs erwähnten Thesen meines Erachtens entschlossen ignoriert. Dabei zeigt das zuletzt genannte Beispiel, daß noch im Zusammenbruch der DDR die früher allseits beschworene Solidarität durchaus Anhänger und aktive Vertreter gefunden hat. Die marginale Position gerade dieser Menschen und ihrer Haltungen im Leben der fünf neuen Länder wird aus dem "Erbe der DDR" nicht zu erklären sein.

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Anmerkungen:

(1) Eine leicht gekürzte Fassung dieses Beitrages erscheint in der nächsten Nummer der Zeitschrift 'Horch und Guck' (Dezember 2000).

(2) Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern, Thesenpapier von Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus für das Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit des landes Brandenburg. I (Thesen), II (Nationalismus, Internationalismus, Diktatur: Streben nach maximalerHomogenität), Ende 1999

(3) Rita Röhr: Die Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte im DDR-Bezirk Frankfurt/O. 1966 - 1991. Eine Darstellung aus wirtschafts- und sozialhistorischer Sicht, eingereicht an der Europa-Universität Viadrina 1997, verteidigt 1998.

(4) BrLHA, Rep. 730, IV B-2/ 6/ 726. Die folgenden Angaben und Zitate nach diesem Bericht. Er ging an den 2. Sekretär der BL der SED, Hans - Joachim Hertwig. Hertwig wurde am 23.5.1971 als Nachfolger Erich Mückenbergers 1. Sekretär der BL und blieb bis 1988 in dieser Position.

(5) Wasiak, K.: Wplyw otwartej granicy pomiedzy Polska a NRD na przebieg procesów internacjonalizacyjnych, Szczecin 1985, S. 64.

(6) BStU, MfS ZAIG 1879, Bl.1ff, 8ff usw.

(7) Rita Röhr, Diss. S. 149

(8) Die Zusammenarbeit im Betrieb wurde in von mir durchgeführten und ausgewerteten Umfragen im Nachhinein, d.h. in den 90er Jahren, generell als gut angesehen. (Diss. S. 153ff)

(9) BStU, MfS HA XVIII 3980, AKG Cbs. Bl. 1; BVfS AKG Cbs. 2075, Bl. 71ff, 107ff; MfS ZAIG 5448, Bl. 5ff

(10) BStU, MfS ZAIG 4151, Bl. 3, 8f, 20ff, 34; MfS ZAIG 5448, Bl. 2ff; BVfS AKG F/O 561, Bl. 5f; BVfS AKG F/O 607, Bl. 2; BVfS AKG F/O 649, Bl. 2

(11) Bekräftigt wird diese Zusammenarbeit nochmals in der 5. Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung Nr. 1/82 vom 30.3.1982 "Politisch- operative Sicherung in der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik eingesetzter ausländischer Werktätiger", in der es u.a. heißt: "2.7. Die politisch- operative Sicherung von Werktätigen aus befreundeten sozialistischen Staaten hat in Koordinierung und Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen dieser Staaten zu erfolgen. Bei gegebenen Voraussetzungen haben die zuständigen Diensteinheiten der Linie XVIII Fragen zur Sicherung von Werktätigen aus den befreundeten sozialistischen Staaten in direkten operativen Arbeitskontakten mit Beauftragten der Sicherheitsorgane dieser Staaten in der DDR zu beraten." (BStU, MfS RS 1012, Bl. 258f)

(12) Vgl. MfS JHS GVS 0001- 179/83

(13) Ebenda, S. 14ff. Dazu gehörten u.a. Informationen über Betriebe und Einrichtungen, die "aufgrund ihrer starken Konzentration polnischer Arbeitskräfte durch feindlich- negative Kräfte und Organisationen angegriffen werden", Informationen zu Bürgern der DDR, die sich längerfristig in Polen aufhalten, die in Grenznähe auf der polnischen Seite der Grenze wohnen, sowie Informationen zu polnischen Bürgern, die in der DDR leben und zu solchen, die sich langfristig in der DDR "aufhalten und mit operativ- bedeutsamen Kontakten ins NSA und in die VR Polen sowie mit operativ- bedeutsamen Verhaltensweisen in Erscheinung treten".

(14) BStU, MfS HA XVIII 3980, Bl. 3

(15) WUP, B- 50

(16) WUP, B- 50

(17) WUP, B- 50

(18) WBP - PZ- 9052

(19) WUP, B- 50; Interview mit Angestellten aus den Arbeitsämtern Zielona Góra und Gorzów Wlkp.., sowie mit der damals stellvertretenden Kaderleiterin des CFG, Frau K..

(20) Vgl. auch BArch Potsdam, DQ - 3/ 1982; Interview mit Frau Nikulka (Reifenwerk Fürstenwalde), ehemaligen Pendlerinnen aus Gubin und der stellvertretenden Kaderleiterin des CFG, Frau K.

(21) Ambasada PRL an SAL, 3.2.83, BArch Potsdam, DQ - 3/ 1082

(22) Ebenda.

(23) Beschluß des Ministerrats vom 22.XI.89. Zu den Folgen vgl. Irene Runge: Ausland DDR, Berlin 1990.

(24) Interviews mit U. Helm und Kr. Michalska; Vgl. auch Wochenpost 28/ 90.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Rita Röhr" <Riroe1966@aol.com>
Subject: Diskussionsbeitrag zur Konferenz "Fremde und Fremdsein in der DDR"
Date: Wed, 29 Nov 2000 15:58:02 MET


       

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