"Von uns selber schweigen wir". Deutsche Historiker und
Nationalsozialismus
Anmerkungen zu einer Podiumsdiskussion an der Europa-Universität Viadrina
Frankfurt (Oder), 11.07.2000
von Janine Nuyken und Daniel Becker
Seit einiger Zeit tobt eine neue Debatte durch die eigentlich eher stillen
Gänge der bundesdeutschen historischen Zunft - die Debatte um die
Verstrickung deutscher Historikereliten in Ideologie und System des
Nationalsozialismus. Exemplarisch focussiert hat sich diese Debatte auf zwei
herausragende Figuren, Werner Conze und Theodor Schieder. Diese folgten zu
Beginn der 1930er Jahre ihrem Lehrer Hans Rothfels an die Universität
Königsberg, um von dort im Namen der neuen Volksgeschichte die
Homogenität des deutschen Staatsvolkes sowie die "Entpolung" und "Entjudung"
osteuropäischer Siedlungsgebiete zugunsten der "Einsiedlung" von
"Volksdeutschen" einforderten - mit dem Gütesiegel wissenschaftlicher
Autorität versehen.
Conze und Schieder galten später in der Bundesrepublik als methodisch
innovativ und politisch zuverlässig - von Entjudung redeten weder sie
selbst noch andere -, wurden Lehrer von ebenso kritischen wie
einflußreichen Köpfen der bundesdeutschen Geschichtsschreibung,
Hans-Ulrich Wehler zum Beispiel. Letzterer steht in der Debatte nun quasi
stellvertrend für die inzwischen Verstorbenen im Kreuzfeuer, da er,
der früher selten zögerte, intellektuelle wie politische Gegner
- Ernst Nolte oder Martin Walser zum Beispiel - hart, ja fast unerbittlich
anzugehen, plötzlich "verstehen" will, allen voran soll man seinen Lehrer
Theodor Schieder verstehen. Weh dem, der sich einstmals anschickte, Ernst
Nolte verstehen zu wollen und dann der Feder von Wehler zum Opfer fiel. Was
Du selbst nicht willst, das man Dir tu, das füge lieber laut und wild
entschlossen anderen zu! So berechtigt dieser Streit zwischen Wehler und
der nachfolgenden Historiker- und Historikerinnengeneration auch ist, so
zeigt er doch nur einen Teil der Substanz, um die es in der Debatte eigentlich
geht.
Und so waren auf dem Podium der Diskussionsrunde, die am 11.07.2000 unter
der Leitung von Reinhard Blänkner an der Europa-Universität stattfand,
auch nicht die bekannten Protagonisten der teils unbotmäßig
polemischen Debatte im Gefolge des Frankfurter Historikertages versammelt,
sondern stillere Beobachter dieser Diskussion: Konrad Jarausch, der Herausgeber
des Interviewbandes zum Thema, Gesine Schwan, die sich seit längerem
mit dem Problem der Moral und des Schweigens nach 1945 beschäftigt,
Thomas Etzemüller, der kürzlich mit einer wissenssoziologischen
Arbeit über Werner Conze promoviert wurde, Heinz Dieter Kittsteiner,
der Historiker des modernen Gewissens, sowie, gewissermaßen als mehrfacher
Zeitzeuge, Rudolf Vierhaus, langjähriger Direktor am Max-Planck-Instituts
für Geschichte. Moderator Reinhard Blänkner wies zu Beginn der
Runde darauf hin, daß es zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit mit
einer posivistischen Rekonstruktion des individuellen Engagements einzelner
Historiker und der Strukturen der nationalsozialistischen
Wissenschaftsorganisation allerdings nicht hinreiche, sich lediglich mit
Historikern im Nationalsozialismus zu beschäftigen. Statt dessen müsse
die Thematik auf die Problemstellung Historiker und Nationalsozialismus
ausgeweitet werden. Hierzu schlug er eine dreifache Historisierung der Debatte
vor: Erstens: die Kontextualisierung des politischen Engagements und der
wissenschaftlichen Arbeiten von Historikern zwischen 1933 und 1945; zweitens:
das Verhältnis dieser Historiker zu ihrem Engagement und ihren Arbeiten
aus der NS-Zeit in der frühen Bundesrepublik; drittens: die Einordnung
der gegenwärtigen Debatte über die ersten beiden
Historisierungsschritte in die geschichtspolitischen Debatten der 90er Jahre,
die Frage also, welche Rolle die Auseinandersetzung, die ja nicht nur in
Wissenschaftskreisen, sondern auch und gerade in den Feuilletons geführt
werde, für die politische Kultur des vereinigten Deutschland spiele?
Und schließlich sei nach der Bedeutung der aktuellen Debatte für
die Selbstthematisierung von Historikern bzw. Kulturwissenschaftlern im
allgemeinen zu fragen. In dieser Zuspitzung könne, so Blänkner,
auch das Titelzitat der Veranstaltung - "Von uns selber schweigen wir" -
einen neuen und anderen Blick auf die gegenwärtige Debatte öffnen.
Denn "Von uns selber schweigen wir" sei natürlich kein Satz aus dem
Munde der nun in die Kritik geratenen Historiker. Der Ausspruch stamme vielmehr
von dem englischen Philosophen und Staatsmann Francis Bacon aus dem Jahr
1620 und solle das Objektivitätspostualt neuzeitlicher Wissenschaft
zum Ausdruck bringen. In dieser Funktion, so Blänkner, habe das Motto
bis heute Geschichte in der Wissenschaftsgeschichte gemacht. Ob dieses
Objektivitätspostulat, das den subjektiven Anteil im Prozeß
wissenschaftlicher Erkenntnis ausschließen zu können meint, heute
noch haltbar ist, sei allerdings zweifelhaft.
Die Dominanz der "nationalen Geschichtsschreibung", die um die Jahrhundertwende
nicht nur in Deutschland zu beobachten war, war Rudolf Vierhaus zufolge
entscheidend, wenn man rekonstruieren will, warum ein Teil der Historiker
für den Nationalsozialismus so ansprechbar war. Die Schocksituation
des Ersten Weltkrieges, die als unverdient demütigend empfundene Niederlage,
der internationale Boykott der deutschen Wissenschaft in der Folgezeit -
all dies trug dazu bei, daß die jungen deutschen Historiker ihre
wissenschaftliche Arbeit glaubten einsetzen zu müssen, um die nationale
Ehre und die Ehre ihrer Wissenschaft zurückzugewinnen. Sprache und Denken
waren national emotionalisiert, der Nationalismus wiederum politisiert und
weiter politisierbar, und beides war international betrachtet nicht
ungewöhnlich. Aber reicht eine solche nationale Verfaßtheit als
Erklärungsmuster? Kann man nicht umgekehrt fragen, ob eine traditional
nationale Grundhaltung nicht von Beginn an mit dem Traditionen zerstörenden
Furor der nationalsozialistischen Selbstinszenierung in Konflikt geraten
mußte und auch geraten ist? Und wenn das nationale Paradigma das ist,
was Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht
nur in Deutschland prägte und sogar nach 1945 erneut das Leitparadigma
der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft wurde, wie Konrad Jarausch betonte,
scheinen weitere Erklärungsansätze nötig. Oder man kann umgekehrt
fragen danach, was die einzelnen - die Historiker in diesem Falle - von der
Preisgabe an ein solches System eigentlich hätte abhalten können.
Das immer wieder in der Debatte auftauchende Argument, daß die Wissenschaft
nur gut und professionell genug sein muß, um gefeit zu sein, läuft
ins Leere, denn - wie Gesine Schwan betonte - Professionalität und die
Erfüllung technischer Qualitätsanforderungen sind unfähig,
moralische Fragen zu beantworten, moralische Dilemmata aufzulösen. Und
daß Schieder, Conze und andere qualitätvolle historische Wissenschaft
produziert haben, daß sie methodisch innovativ den Blick weg vom Staat
hin zum Volk, der Bevölkerung gewandt haben, steht nicht wirklich in
Zweifel. Aber dies hat sie eben politisch und moralisch nicht bewahrt.
Da war sie also auf dem Tisch, die Frage nach Moral und Gewissen des Einzelnen.
Aber über was für ein Gewissen reden wir da eigentlich, fragte
Heinz Dieter Kittsteiner. Nach 1918 habe sich, so Kittsteiner, neben der
bürgerlichen Moral eine gänzlich neue Moral, ein neuer Typ von
Gewissen herausgebildet, das im Nationalsozialismus schließlich auf
eine ganz andere Formulierung des Imperatives hörte: Handle so, daß
der Führer, wenn er von Deiner Handlung wüßte, sie
gutheißen würde. So steht - idealtypisch gedacht - zum Beispiel
ein Mitglied eines SS-Exekutionskommandos zwischen zwei Gewissen, das eine,
das ihm das Töten von Menschen verbietet, das andere, das ihm, in Form
des internalisierten Führerbefehls, das Töten von bestimmten Menschen
zur Aufgabe, zur Pflicht macht. Ob es wirklich gelungen ist, ein solches
nationalsozialistisches Gewissen entstehen zu lassen, war und ist umstritten,
nicht nur auf diesem Podium.
Welchem Gewissen die Handelnden auch immer gefolgt sind, Tatsache ist, daß
nach 1945 die meisten über ihre Verstrickungen geschwiegen haben, solange
sie nicht zum Reden gezwungen wurden. So auch die Historiker Schieder und
Conze. Und für die Schülergeneration war es möglicherweise
aus Karrieregründen nicht opportun, selbst nach der individuellen
Verantwortung der Lehrer zu fragen. Aber die Fragen nach persönlicher
Verantwortung konnten ja auch geschickt umschifft werden, weil mit der Erfindung
der Strukturgeschichte deren methodische, nur durch einen Wechsel
des Vokabulars kaschierten Affinitäten zur "Volksgeschichte" in der
Tat auffällig sind eine Historiographie zur Verfügung stand,
die zugunsten relativ anonymer Kategorien individuelle Verantwortungen Einzelner
in den Hintergrund treten ließ. Erst mit einer zunehmenden Amerikanisierung
des Holocaust, so Konrad Jarausch, auch im wissenschaftlichen Diskurs, sei
die Frage nach der individuellen Verantwortung, nach dem Verhalten der "ganz
normalen Männer" wieder aufgekommen. Und nur so ist es vielleicht zu
erklären, daß gerade jetzt eine solche Debatte noch einmal
geführt wird.
Und vielleicht können die Fragen, die so lange nicht gestellt wurden,
eben erst jetzt, nachdem die im Nationalsozialismus engagierten Historiker
verstorben sind, gestellt werden, weil eine direkte Konfrontation mit
moralisierendem Impetus wohl gar nicht möglich war. Denn vielleicht
stellt man ja sogar - so der Anthropologe Werner Schiffauer - mit der Frage
nach Moral und Gewissen genau die Frage, die eine Auseinandersetzung am
erfolgreichsten verhindert, das Schweigen produziert hat. Hier lagen die
Diskutantinnen und Diskutanten wohl am weitesten auseinander. Auf der einen
Seite Gesine Schwan, für die eine solche Diskussion ohne die Kategorie
der Moral nicht funktionieren kann, auch wenn man es versuchen wollte - auf
der anderen Seite Werner Schiffauer und wohl auch Thomas Etzemüller,
für die die Debatte gerade wegen der Dominanz der Moral nicht funktioniert.
Die verstrickten Historiker haben vielleicht - so das Argument - deswegen
nach 1945 geschwiegen, weil der von einer stark moralischen Grundhaltung
geprägte Diskurs den in die Verbrechen auf verschiedenste Weise Verstrickten
nur drei Möglichkeiten ließ: Leugnen, beichten und Buße
tun oder eben schweigen.
Die komplexen und in sich oft widersprüchlichen Erfahrungen der Einzelnen
- darin unterscheiden sich dann Mediziner, Historiker, Soldaten der Wehrmacht
und Bahnbedienstete, die die Züge nach Auschwitz abfertigten, nur graduell
- ließen sich möglicherweise gerade wegen der Dominanz der Moral
im Reden über Auschwitz nur schwer artikulieren und gingen im Schweigen
verloren. So standen und stehen sie sich denn schweigend gegenüber,
die "Moralisierer" auf der einen Seite, auf der anderen die, die sich immer
wieder darin bestärkt fühlten, daß sie ohnehin keiner versteht.
Veteranengespräche sind dann das, was übrigbleibt bis heute.
Im gegenwärtigen politischen Kontext spiegelt die Auseinandersetzung
vielleicht auch das letzte Aufbäumen jener Auschwitzreligion, jenes
Holocaustbewußtseins wider, das sich in der Auseinandersetzung um
Holocaust-Mahnmal und Walser-Rede letztendlich wohl erschöpft hat, um
langsam einer wie auch immer gearteten "Normalisierung" des Verhältnisses
der Deutschen zu ihrer eigenen Geschichte zu weichen. Es ist jedenfalls
bemerkenswert, daß mehr und mehr nicht mehr die NS-Historiker selber,
sondern ihre Schüler ins Fadenkreuz der Kritik geraten sind, die Debatte
also insofern durchaus geschickt die Sättigungssymptome den
Nationalsozialismus betreffend unterläuft und nunmehr die Generation,
die maßgeblich zur Durchsetzung jenes "negativen Nationalismus" beigetragen
hat, selbst auf die Anklagebank führt. An der moralisierenden
Attitüde, die scheinbar all diesen Debatten anhaftet und die vielleicht
wirklich eher hemmend als befreiend wirkt, ändert diese Verschiebung
freilich nichts. Ob es wirklich funktionieren kann, ohne die Kategorie Moral
über Verstrickungen und in den Nationalsozialismus und ihre Bewertung
zu reden, blieb offen. Daß es vielleicht wünschenswert ist, ist
eine andere Frage.
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