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Titel
Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ


Autor(en)
Reiter, Margit
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Höbelt, Institut für Geschichte, Universität Wien

Der schriftliche Nachlass des FPÖ-„Gründervaters“ Anton Reinthaller ist vor einigen Jahren im Oberösterreichischen Landesarchiv gelandet. Der Rezensent hat die Teile, die für die Vorgeschichte der FPÖ-Gründung von besonderem Belang sind, 2015 in einer Edition für die Haslauer-Stiftung verarbeitet1; Margit Reiter darauf jetzt ein Buch aufgebaut, das auch die Vorgängerpartei VdU umfasst, über die ich 1999 eine Studie vorgelegt habe, die mehr ins Detail geht.2 Das Resultat lässt sich dahingehend zusammenfassen: Auch bei ganz unterschiedlichen politischen Ausgangspunkten kommen Historiker bei Prüfung desselben Quellenbestandes doch in wesentlichen Fragen vielfach zu ganz ähnlichen Schlüssen (nicht nur zum selben Titelbild). Zwischen VdU und FPÖ gab es eine viel größere Kontinuität als von den Protagonisten damals angedeutet; viele parteiinterne Kontroversen wurden zu Unrecht nach dem Muster „liberal“ vs. „national“ mit ideologischen Mäntelchen behübscht; die Autorität der „belasteten“ Nazis an der Spitze der FPÖ hat es ihr immerhin ermöglicht, diverse Radikalinskis und Hitzköpfe ohne große Schwierigkeiten zu eliminieren, frei nach dem Verslein, mit dem die ÖVP schon 1949 geworben hatte: „Gebrannte Kinder scheuen das Feuer / Entregistrierte Abenteuer“.3

Reiter hat für die frühen Jahre der FPÖ außerdem noch ein inzwischen aufgetauchtes Fragment des Nachlasses von Willfried Gredler benutzt, das belegt, wie sehr Reinthaller als Galionsfigur, nicht als eigentlicher Manager der FPÖ gedacht war, sondern als „h.c. Vorsitzender“.4 Die Autorin hat auch die Entnazifizierungsakten einiger Repräsentanten herangezogen (eine umfassende Auswertung der FPÖ-Elite durch Michael Wladika, der aus dieser Perspektive auch die Parlamentarier der ÖVP untersucht hat, steht kurz vor der Fertigstellung). Dass es sich bei Reinthaller und diversen seiner Mitstreiter (wie z.B. dem Kärntner Landesbauernführer Reinhold Huber oder dem Tiroler Gauinspektor Klaus Mahnert) um hochrangige NS-Funktionäre handelte, war damals wie heute kein Geheimnis; ebenso wenig, dass Reinthaller über einen vorzüglichen persönlichen Leumund verfügte (auch bei in dieser Hinsicht vielfach kritischen Persönlichkeiten wie Leopold Figl). Er war „sowohl bereit als fähig, sich an die geänderten politischen Umstände anzupassen“ (S. 190), urteilt Reiter. (Dass bei ihm „biographische und ideologische Kontinuitäten“ gegeben waren, grenzt hingegen an Tautologie.)

Die Erinnerungskultur der „Ehemaligen“, so Reiter, war von einer Doppelstrategie geprägt. Die gängige Praxis, sich zwar von den Verbrechen des NS-Regimes zu distanzieren, aber nicht alle Maßnahmen in Bausch und Bogen zu verdammen, entsprach der politischen Realität der 2. Republik, die ja trotz diplomatisch nützlicher Okkupationstheorie notgedrungen viele Bestimmungen der Jahre 1938 bis 1945 übernommen hatte. Sie entsprach auch der Praxis der Mitbewerber, die zwar keineswegs (wie die Revolutionären Sozialisten der 1930er-Jahre) der Diktatur des Proletariats nacheiferten oder dem autoritären Ständestaat (wie ihre Gegenspieler), sich aber ebenfalls nicht bemüßigt fühlten, für frühere Exzesse pflichtschuldigst Abbitte zu leisten. Gefordert war eben nicht das „mea maxima culpa“, sondern das „tempora mutantur – nos et mutamur in illis“. Im Vergleich mit heutigen Usancen auffallen mag allenfalls, dass nicht der Antisemitismus (ein Thema, das Reiter immer schon sehr beschäftigt hat), sondern in erster Linie die Distanz zum „Anschluss“ zum „Lackmustest“ (S. 117), zu den „normativen Vorgaben der offiziellen Vergangenheitspolitik“ (S. 190) für den „guten Österreicher“ zählten.

Kurios erscheint allerdings, wie wenig Reiter am Kontext und an den eigentlichen politischen Hintergründen der FPÖ-Gründung interessiert zu sein scheint. Eine Partei ist schließlich kein Geschichtsverein, befasst mit Trauerarbeit um verlorene Größe, sondern ein Vehikel zur Erreichung bestimmter politischer Zielsetzungen. Bei der Initiative Reinthallers, die in die Gründung der FPÖ mündete, gab es dazu deutliche Impulse seitens der Industrie und des Staatsvertragskanzlers Julius Raab. Sie wollten den zerfallenden VdU, in dessen Reservoir ja auch mehrere Gruppen fischten, die von links unterstützt wurden, durch eine Partei ersetzen, die stabil und verlässlich „antikollektivistisch“ war. Dazu finden sich inzwischen auch genügend Belege, die von Reiter links (oder rechts) liegengelassen werden. Sie geht darauf (S. 201) bloß mit einem eher irreführenden Satz ein, der auf die Memoirenliteratur zurückgeht. Dieses mangelnde Interesse an der Einbindung des VdU in den politischen Kontext der 1950er-Jahre wird auch in den kleinen Fehlern deutlich, die nicht weiter tragisch, aber bezeichnend sind: wenn zum Beispiel der VdU mit der „Aktion für politische Erneuerung“ verwechselt wird (S. 156) oder der Außen- mit dem Unterrichtsminister (S. 73). Ein weiteres Beispiel: Raab begann 1953 eben nicht mit dem VdU zu verhandeln, nachdem er Figl als Kanzler abgelöst hatte (S. 157); sondern die Einbindung des VdU war vielmehr die Bedingung, unter der Figl hätte weitermachen können.5 Brigitte Bailer-Galanda hat zu Recht geschrieben: „Im Hintergrund bestand nach den Wahlen eine informelle Achse zwischen ÖVP und VdU.“6 Diese Achse, die wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Raab-Kamitz-Kurses hatte, war der wohl wichtigste Beitrag des VdU zur Geschichte der 1950er-Jahre.

Manche von Reiters politischen Urteilen sind schwer nachvollziehbar. In einem Ausblick findet sich der Satz: „Das Bemühen um eine Öffnung der Partei [...] war spätestens nach der putschartigen Machtübernahme durch Jörg Haider 1986 endgültig gescheitert.“ (S. 255) Man mag zu Haider stehen, wie man will, aber geöffnet hat er die Partei nicht nur für eine große Zahl von politischen „Quereinsteigern“, sondern auch für Wähler, die zuvor ganz offensichtlich wenig mit der FPÖ verband, wie das Wachstum der Partei von 5 auf 27 Prozent belegt. Zu Diskussionen anregen dürfte auch die Bemerkung: „Der politische Diskurs hatte sich nach 1955 weiter verengt.“ (S. 279) Das wird viele Niederösterreicher wohl erstaunen. Aber das wäre ein Thema für ein anderes Mal.

Anmerkungen:
1 Lothar Höbelt (Hrsg.), Aufstieg und Fall des VdU. Briefe und Protokolle aus privaten Nachlässen 1948–1955, Wien 2015.
2 Lothar Höbelt, Von der Vierten Partei zur Dritten Kraft. Die Geschichte des VdU, Graz 1999.
3 Ebd., S. 87.
4 Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, Nl. 116: Willfried Gredler, Mappe 8, Brief Friedrich Peters vom 15.6.1957.
5 Karl von Vogelsang-Institut, Karton 1223, ÖVP-Bundesparteileitung 27.2. und 22.3.1953.
6 Brigitte Bailer-Galanda, Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen, Wien 2003, S. 298.

Kommentare

Von H-Soz-Kult, Redaktion06.06.2020

In der Redaktion von H-Soz-Kult hat uns massive Kritik ob der Rezensentenwahl zu dieser Besprechung erreicht. Die Redaktion von H-Soz-Kult nimmt solche Hinweise sehr ernst. Die Auswahl von Rezensent/innen hat sich stets zwischen den engen Grenzen der fachlichen Einschlägigkeit und der Vermeidung von Interessenkonflikten zu bewegen. Gerade für die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts können persönliche politische Überzeugungen (wie im vorliegenden Fall kritisiert) eine weitere Rolle spielen. Manchmal sind diese Entscheidungen schwer und selten ist die von Redakteur/innen getroffene Auswahl über alle Kritik erhaben.

Es steht grundsätzlich allen Leser/innen von H-Soz-Kult offen, Repliken zu Rezensionen einzureichen. Nach der redaktionellen Bearbeitung veröffentlichen wir diese Repliken und geben auch den Rezensent/innen Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Redaktion von H-Soz-Kult diskutiert in ihren Gremien wie der Steuerungsgruppe und Redaktionskonferenzen fortlaufend über den Ort der Rezension im geschichtswissenschaftlichen Diskurs. Die Verständigung über wissenschaftliche Standards im Rezensionswesen ist selbstverständlich Bestandteil dieser Diskussion, ebenso wie Debatten über eine angemessene Auswahl von Rezensent/innen.

Mit den besten Grüßen
die Steuerungsgruppe von H-Soz-Kult


Von Hoebelt, Lothar10.07.2020

Die Replik von Brigitte Bailer, Johannes Breit, Andreas Kranebitter und Bertrand Perz stellt ein durchaus interessantes Zeitdokument dar. Ich belasse es, was die tagespolitischen und philosophischen Exkurse betrifft, bei dem Geständnis, dass ich gegen Humor weder „von oben“ noch „von unten“ etwas einzuwenden habe.

Bei aller Eitelkeit, so steht zu befürchten, kann ich vermutlich keine Ausnahmeposition beanspruchen, wenn es um die Bekanntschaft von Autoren mit den handelnden Personen der Zeitgeschichte geht: Der Großteil der Literatur zur Geschichte der politischen Parteien der zweiten Republik stammt von Historikern, die selbst deren Umfeld zugerechnet werden können (wie z.B. Oliver Rathkolb für die SPÖ und Kreisky oder Robert Kriechbaumer für die ÖVP und Klaus), was sich nicht zuletzt daher ergibt, dass vielfach (nur) auf diesem Wege auch Quellenbestände erschlossen werden können, die in öffentlichen Archiven nicht zu finden sind.

Ein wenig verwundert hat mich der Vorwurf, mit meiner Kritik säumig gewesen und „durchaus zu diskutierende Punkte“ übersehen zu haben. Die Kollegin und Kollegen schreiben über Reiters Buch: „Wünschenswert wäre eine stärkere Einbettung dieser Geschichte in die innenpolitischen Entwicklungen der Zweiten Republik“ gewesen. In meiner Rezension war die Rede vom „mangelnden Interesse an der Einbindung des VdU in den politischen Kontext der fünfziger Jahre.“ In diesem Sinne: Quod erat demonstrandum. Bailer und Kollegen zitieren in ihrer Kritik selbst Reiter, die schreibt, dass es sich bei parteiinternen Konflikten „weniger um grundsätzliche ideologische Differenzen“ gehandelt habe, und meine Formulierung, dass derlei Kontroversen „zu Unrecht mit ideologischen Mäntelchen behübscht“ wurden. Drängt sich dabei nicht der Verdacht auf, dass wir da nun einmal offensichtlich zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen kommen?

Was die Einschätzung Reinthallers als Galionsfigur und „h.c. Vorsitzenden“ der FPÖ betrifft, habe ich allerdings nicht von einer Übereinstimmung mit Reiter gesprochen, wohl aber korrekterweise zum Ausdruck gebracht, dass ich den Hinweis auf den Quellenbestand, wo sich diese Zitate finden, ihrem Buch verdanke. Das politische Auftreten des VdU auf den „Kampf gegen die Entnazifizierung“ zu reduzieren geht insofern in die Irre, weil dieses Bemühen infolge diverser Amnestien inzwischen weitgehend an Aktualität verloren hatte, aber auch, weil dieser Punkt allein das Interesse Raabs und der Industrie an der Kooperation mit dem VdU bzw. der Gründung der FPÖ nicht erklären könnte.

Es liegt mir im übrigen völlig fern, von irgendjemandem Distanzierungen einzufordern, weder von Funktionären des Ständestaates noch von Revolutionären Sozialisten, ich habe lediglich auf die gängige Praxis aller drei Lager hingewiesen, früher eingenommenen Positionen nicht abzuschwören, sondern sie als zeitbedingt für nicht mehr aktuell zu erklären. Als schöne Illustration dieser Haltung bin ich seither auf einen Presse-Beitrag des damaligen Unterrichtsministers Heinrich Drimmel aufmerksam geworden, der 25 Jahre nach dem „Anschluß“ von 1938 über „Gräben und Gräber hinweg“ ausdrücklich mahnte, man solle Fehler von damals selbstverständlich nicht wiederholen, aber auch die eigenen Jugendideale nicht schmähen.1

Anmerkung:
1 In: Die Presse, 12. März 1963.


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