M. Embach u.a. (Hrsg.): Die Handschriften der Hofschule Kaiser Karls des Großen

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Titel
Die Handschriften der Hofschule Kaiser Karls des Großen. Individuelle Gestalt und europäisches Kulturerbe. Ergebnisse der Trierer Tagung vom 10.-12. Oktober 2018


Herausgeber
Embach, Michael; Moulin, Claudine; Wolter-von dem Knesebeck, Harald
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Hermann Vennebusch, Exzellenzcluster Understanding Written Artefacts, Universität Hamburg

Die unter dem Namen „Hofschule Karls des Großen“ bekannte Gruppe an illuminierten Handschriften umfasst neun Manuskripte: sechs Evangeliare, ein Perikopenbuch, ein Evangelistarfragment und den sogenannten Dagulf-Psalter, die auf die Zeit zwischen um 781 und 814 datiert werden. Dieser Handschriftengruppe widmete sich 2018 eine Tagung in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Trier, deren Beiträge im vorliegenden Band versammelt sind. Im Vorwort wird die Hofschule als Ort charakterisiert, „an dem sich auf vielfältige Weise Politik, Kunst, Kirche und Kultur vereinigten“ und „eine herausragende Herrschaft, eine aus ganz Europa rekrutierte ‚Intelligenz‘ sowie durchaus auf Augenhöhe mit letzterer agierende Buchkünstler zusammenwirkten“ (S. 12). Damit deutet sich bereits die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes an, der die Beiträge aus der Kunstgeschichte, Paläographie, Geschichts- und Musikwissenschaft Rechnung tragen.

Den Band eröffnet die kunsthistorisch geprägte Sektion „Handschriften der Hofschule im Einzelporträt“. Zunächst geht William Diebold der Relation von Bild und Text am Beispiel des Soissons-Evangeliars (Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 8850) nach und begründet anschaulich seine These, „its makers wanted above all to assert the word´s superiority to the image“ (S. 17). Laut Diebold handelt es sich bei den Miniaturen des Soissons-Evangeliars nicht um Szenen aus der Vita Jesu, sondern um die Darstellungen der Verschriftlichung des Gotteswortes in den Evangelistenbildern, da laut karolingischer Auffassung die Taten Jesu zu heilig waren, um sie bildlich wiederzugeben. Ilka Mestemacher widmet sich in ihrem Beitrag der Rolle der dargestellten Materialien in demselben Codex. So werden in dieser Handschrift die Architekturdarstellungen wie die berühmte Fons vitae und die Kanontafeln als Marmorfigurationen gezeigt, die teilweise mit Gemmen besetzt sind. Mestemacher interpretiert diese Materialallusionen im Sinne von lebendigen Steinen als Verweise auf die Kirche bzw. die Gemeinschaft der Gläubigen und als Anspielung auf das Himmlische Jerusalem. Im Zusammenhang mit den Rahmungen der Initialseiten der vier Evangelien weist sie hingegen auf Parallelen zu zeitgenössischen Gestaltungen von Bucheinbänden hin. Michael Embach wendet sich dem nach seiner Stifterin benannten Ada-Evangeliar (Stadtbibliothek Trier, Hs 22) zu, das in zwei Etappen zwischen 790 und 810 vermutlich zunächst in Worms, dann in Aachen entstand. Embach beschreibt die Ausstattung dieser „Leithandschrift der Hofschule Karls des Großen“ (S. 69) und geht schließlich auf den erst 1499 geschaffenen Einband ein, dessen Bildprogramm vor allem dazu beitragen sollte, die Abtei St. Maximin „als frühchristliche Coemeterialbasilika, d. h. als Begräbnisstätte heilig gesprochener Bischöfe, zu profilieren“ (S. 90) und den Gründungsmythos dieses angeblich von Kaiserin Helena errichteten Klosters zu vergegenwärtigen. Das Godescalc-Evangelistar (Bibliothèque nationale de France, Ms. nouv. acq. lat. 1203) steht im Mittelpunkt des Beitrags von Beate Fricke und Theresa Holler. Anhand der Evangelistenbilder, der Darstellung Christi und des Lebensbrunnens lenken sie die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Rosen in diesen Miniaturen. Im Rekurs auf zeitgenössische Texte zur medizinischen Wirkung dieser Pflanze wird die „Heilwirkung und lebensspendende Kraft“ (S. 121) der Texte in diesem Perikopenbuch herausgearbeitet, dessen Seiten purpurrot scheinen und mit zahlreichen Rosendarstellungen versehen sind. Schließlich untersucht Adrian Papahagi den Zusammenhang zwischen dem Lorscher Evangeliar (Biblioteca Batthyaneum, Alba Iulia, MS II.1 / Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. Lat. MS 50) und der „Ada-Gruppe“ und geht insbesondere der theologischen Konzeption nach, die an der Handschrift und den ehemals ihren Einband zierenden Elfenbeintafeln ablesbar ist. Seiner Meinung nach ist die Miniatur der Maiestas Domini das dominierende Motiv dieser Handschrift, das auch durch verschiedene ikonographische Details auf den Elfenbeinen des Bucheinbands aufgegriffen wird.

Die zweite, „Aspekte der Kunstgeschichte“ betitelte Sektion eröffnet der Beitrag von Fabrizio Crivello zur Rezeption und Variation der (spätantiken) Vorlagen insbesondere bei der Konzeption der Kanontafeln. Er zeigt anhand dieser Rahmenarchitekturen in den Manuskripten überzeugend auf, dass es die Buchmaler vermochten, „die antiken Motive zu neuen und originellen Lösungen zu verschmelzen und weiterzuentwickeln“ (S. 180). Die in den Libri Carolini zu findenden „Spuren der bereits früher einsetzenden ornamentverliebten Praxis der Gestaltung der am Hof entstandenen anspruchsvollen Handschriften“ (S. 206) behandelt Peter Seiler. Er widerlegt die These, diese Schrift würde ein bilderfeindliches Programm verbreiten, und weist stattdessen nach, dass sie einen Mittelweg propagiert, bei dem Bilder beispielsweise als ästhetisch ansprechend oder nützlich für die Erinnerung an die heilbringenden Taten Jesu angesehen werden, jedoch selbst nicht heilsnotwendig sind. Den sogenannten historisierten Initialen in den Handschriften der Ada-Gruppe widmet sich Christine Jakobi-Mirwald. Sie analysiert die im Zusammenhang mit den Evangelien-Initien stehenden Darstellungen und äußert die Vermutung, dass Theodulf von Orléans „für die zögerliche Aufnahme der neuen Bildform der historisierten Initiale am Hofe Karls des Großen verantwortlich“ (S. 226) gewesen sein könnte. Das strukturelle Verhältnis des Wiener Krönungsevangeliars (Weltliche Schatzkammer, Kunsthistorisches Museum, Wien, Inv.-Nr. XIII 18) zu den Hofschul-Handschriften untersucht Matthias Exner. Nach einer Bestandsaufnahme dieses Manuskripts arbeitet er plausibel die Parallelen zu den Codices der „Ada-Gruppe“ insbesondere hinsichtlich der Anlage der Kanontafeln, der Konzeption der Initialen und der Textredaktion heraus und vermutet, dass das Wiener Krönungsevangeliar sowie das Purpurevangeliar aus Saint-Riquier in Abbeville (Bibliothèque municipale, Abbeville, Ms 4) „konkurrierende Unternehmungen der beiden am Hof tätigen Skriptorien“ (S. 259) gewesen sein können. Christoph Winterer geht am Beispiel der Evangelistenbilder der Kontinuitätsfrage nach. Er führt den verblüffenden Nachweis, dass gewissermaßen Schablonen benutzt und bisweilen auch kombiniert wurden, wodurch sich die in weiten Teilen übereinstimmenden und dann je eigens ausgearbeiteten Silhouetten einiger Evangelisten erklären lassen, was wiederum zu einer „Gruppenbildung“ innerhalb der Handschriftengruppe führt.

Die Sektion „Das Umfeld der Hofschule“ eröffnet der Beitrag von David Ganz, der sich mit dem Phänomen der mit Goldtusche geschriebenen Manuskripte befasst. Im Rahmen seiner paläographischen Analyse zeichnet er die Verwendung der karolingischen Minuskel und der Unziale durch die Kalligraphen der Hofschule nach und weist bestimmte Partien entsprechenden Kalligraphen zu. Anhand einer Gruppe von 220 Manuskripten untersucht Laura Pani die Verwendung der karolingischen Minuskel in Codices aus Skriptorien, die zur Zeit der Hofschule entstanden, aber in keinem Zusammenhang mit ihr stehen. Hier kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich die karolingische Minuskel erst in der Mitte des 9. Jahrhunderts als verbindlich durchgesetzt hat, wobei sie freilich in einigen Zentren früher angenommen wurde. Die Lukrez-Rezeption nach der Ankunft einer Handschrift mit seinem Naturgedicht und das darauf folgende Aufkeimen des Epikureismus am Hof Karls des Großen beschreibt Dietrich Lohmann. Insbesondere beleuchtet er auch die nahezu schleichende Unterdrückung dieser philosophischen Strömung und zeigt die Rolle der verschiedenen Gelehrten am Hof auf. Stephanie Westphal untersucht „den Austausch von Ideen und Wissen“ (S. 357) zwischen karolingischen Klöstern am Beispiel der Buchmalerei des Klosters Weissenburg im Elsaß. Am Buchschmuck der dort zwischen um 800 bis um 870 entstandenen Handschriften verdeutlicht sie, wie die Einflüsse aus anderen klösterlichen Skriptorien dort rezipiert wurden, bevor sich in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts unter Otfried eine sehr schlichte Gestaltung der Manuskripte ohne Illuminationen durchsetzte. Die Überlieferung und Interpretation der Komödien des Terenz stellt Patrizia Carmassi in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Hierbei gibt sie zu bedenken, dass an den erhaltenen Manuskripten nicht nur das reine Interesse an der antiken Literatur erkennbar wird, sondern dass eine regelrechte Aktualisierung der Dichtung stattfand, die nicht nur in der visuellen Organisation der Handschriften und in ihren Miniaturen, sondern auch in Glossen bestand, die Zeugnis von den intellektuellen Diskursen am karolingischen Hof geben. Der Verbreitung des Liber Pontificalis zur Zeit Karls des Großen widmet sich Andrea Antonio Verardi. Er weist verschiedene Redaktionen nach, die er durch die Vervielfältigung dieser Texte zum einen am Hof und zum anderen in den einzelnen lokalen kulturellen Zentren erklärt.

Die Beiträge der vierten Sektion zu „Liturgie und Musik“ loten die Relevanz der Hofschule Karls des Großen für diese Bereiche aus. Jean-François Goudesenne korrigiert die Annahme einer sehr zentralistisch durchgeführten Liturgiereform anhand des liturgischen Gesangs. Hierbei geht er von Manuskripten für den gottesdienstlichen Gesang aus, die in einigen klösterlichen Skriptorien unter dem Einfluss der karolingischen renovatio entstanden, und spürt unter anderem zahlreiche Text- und Musikvarianten auf, die gegen eine stringente Umsetzung der der vom Frankenherrscher intendierten Vereinheitlichung sprechen. Mit der Frage, wie der Psalmentext trotz fehlender musikalischer Notation im Dagulf-Psalter (Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Cod. 1861) in einer Weise präsentiert wurde, dass er gesungen werden konnte, beschäftigt sich Susan Rankin. Eine sich unterscheidende Interpunktion einerseits am Ende eines Verses, andererseits nach einem Halbvers löst die visuelle Organisation des Textes per cola et commata ab, wodurch die „practise of singing psalms in half-verses, with different melodic formulas for the first and second half verses“ (S. 481) erst möglich wird. In seinem Beitrag zum Cantus Romanus in den karolingischen Handschriften differenziert Iegor Retznikoff zwischen dem „chant as musical […], and chant as texts to be sung“ (S. 489), wodurch es ihm überzeugend gelingt, die Problematik aufzulösen, dass sich trotz der Annahme einer Vereinheitlichung des liturgischen („gregorianischen“) Gesangs der karolingische Gesang von dem in Rom unterscheidet. Eine Vereinheitlichung ist daher eher in den Manuskripten mit den liturgischen Texten zu erkennen, die jedoch keinerlei musikalische Notation aufweisen. In der letzten Studie des Bandes hinterfragt Arthur Westwell die These, dass das vom Papst an den Hof geschickte hadrianische Sakramentar auf Betreiben Karls das bisher verbreitete gelasianische ersetzte. Anhand des Fragments eines noch im frühen 9. Jahrhundert im Umkreis der Hofschule geschriebenen gelasianischen Sakramentars, das im 12. Jahrhundert als Einbandmakulatur für ein Manuskript mit Schriften Anselms von Canterbury genutzt wurde, belegt er, dass der vermeintlich verdrängte Sakramentartyp weiterhin kopiert und vermutlich sogar noch einige Jahrhunderte genutzt wurde.

Der mit 542 Seiten (inklusive Handschriftenregister) äußerst umfangreiche und insbesondere bei den kunsthistorischen Beiträgen reich bebilderte Tagungsband zeigt auf den verschiedenen Ebenen die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Hofschule Karls des Großen und der in ihr entstandenen Manuskripte auf. Hierbei knüpfen die Beiträge an eine zum Teil äußerst umfangreiche Forschung zu den einzelnen Codices an und präsentieren zahlreiche neue Erkenntnisse, die bisweilen zu einer Neubewertung der Werkstattorganisation, der Austauschprozesse und der mit den Handschriften verbundenen theologischen Implikationen führen. Als gewinnbringend hat sich die interdisziplinäre Herangehensweise erwiesen, wobei die einzelnen Sektionen doch recht unverbunden bleiben. Eine Zusammenschau muss nun individuell im Rahmen der Lektüre erfolgen, um die beeindruckende und in den Beiträgen immer wieder anklingende Interaktion der Gelehrten, Buchkünstler und des Herrschers an seinem Hof und das damit verbundene intellektuelle und kreative Klima noch pointierter zu erfassen. Insofern trägt der Band eine Vielzahl an Aspekten zusammen, die den besonderen Wert der Handschriften der Hofschule Karls des Großen herausstellen.

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